PERSONALquarterly 4/2018 - page 38

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PERSONALquarterly 04/18
NEUE FORSCHUNG
_REKRUTIERUNG
D
ie Sichtung der Bewerbungsunterlagen stellt in der
Regel den ersten Schritt eines Auswahlverfahrens
dar. Insofern kommt der validen Sichtung der Bewer­
bungsunterlagen eine zentrale Funktion im gesam­
ten Auswahlprozess zu. Dabei können zwei Fehler unterlaufen:
(1) Bewerber und Bewerberinnen, die für die vakante Stelle
nicht geeignet sind, werden positiv bewertet und gelangen
in die nächste Auswahlrunde. Dieser Fehler lässt sich spä­
ter im Einstellungsinterview, in der Testdiagnostik oder im
Assessment Center als solcher erkennen und korrigieren.
(2) An sich geeignete Bewerber und Bewerberinnen werden
aufgrund der Bewerbungsunterlagen als ungeeignet eingestuft
und zurückgewiesen. Dieser Fehler kann nicht mehr erkannt
und korrigiert werden, da die Betroffenen keine weitere Chan­
ce erhalten, ihre Eignung unter Beweis zu stellen. Aus Sicht
des Arbeitgebers ist der Fehler der ersten Art weniger folgen­
schwer als der zweite. Dies gilt umso mehr, je weniger geeig­
nete Kandidaten/-innen sich im Bewerberpool befinden.
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, inwie­
weit die Gestaltung der Bewerbungsunterlagen Aussagen über
grundlegende Persönlichkeitsmerkmale ermöglicht. Im Fokus
stehen dabei erstmals Kriterien der Gestaltung, wie sie in der
Ratgeberliteratur formuliert und in der alltäglichen Praxis oft
zum Einsatz gebracht werden (Kanning, 2015). Hierzu zählt
bspw. die Länge eines Anschreibens, die Unterschrift unter
dem Lebenslauf oder die Anzahl von Tippfehlern.
Befunde zur Validität der Sichtung von Bewerbungs­
unterlagen
Studien, die sich mit der Validität von Bewerbungsunterlagen
beschäftigen, gehen der Frage nach, inwieweit Informationen,
die sich in den Bewerbungsunterlagen finden lassen (z. B. bezo­
gen auf Schulnoten, Berufserfahrung oder Freizeitaktivitäten)
in einem signifikanten Zusammenhang zur beruflichen Leis­
tung oder bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen stehen, die
ihrerseits Relevanz für das Verhalten und die Leistung späterer
Mitarbeiter/-innen im Berufsalltag besitzen können. Sollten
sich derartige Zusammenhänge belegen lassen, so wäre es
für die Praxis sinnvoll, entsprechende Informationen in die
Auswahlentscheidung einfließen zu lassen. Würde man hin­
Wie valide ist die regelkonforme Gestaltung
von Bewerbungsunterlagen?
Von
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning
(Hochschule Osnabrück),
Leonie Budde
und
Mareike Hülskötter
gegen bei der Auswahl Kriterien heranziehen, die in diesem
Sinne keine Validität besitzen, so würde der Arbeitgeber keine
primär leistungsbezogene oder anforderungsbezogene Vor­
auswahl vornehmen. Dabei können zwei Fehlentscheidungen
resultieren. Zum einen können Personen, die für den vakanten
Arbeitsplatz nicht geeignet sind, zum Einstellungsinterview
eingeladen werden (= Fehler der ersten Art). Diese Fehler lie­
ße sich im Einstellungsinterview bzw. übrigen Verfahren, die
der Vorauswahl folgen (Testverfahren, Assessment Center etc.)
korrigieren. Zum anderen werden Personen, die für die Stelle
geeignet wären, als solche nicht identifiziert (= Fehler der zwei­
ten Art). Dieser Fehler lässt sich nicht mehr korrigieren, weil
die Betroffenen nach der Sichtung der Bewerbungsunterlagen
aus den Verfahren ausscheiden und nicht weiter untersucht
werden. Die Erforschung der Aussagekraft von Informationen,
die in Bewerbungsunterlagen zur Verfügung gestellt werden,
ist somit von großer Bedeutung für die Praxis.
Die Menge derartiger Studien ist sehr überschaubar (vgl. Cole/
Feild/Giles/Harris, 2009). Die meisten Studien liefern zudem
ernüchternde Befunde (Kanning, 2015). Das Bewerbungsfoto hat
sich als eine Quelle der verzerrten Beurteilung von Bewerbern/
-innen erwiesen, da sehr gut aussehende Menschen im Sinne
eines Halo-Effektes in ihrer Eignung überschätzt werden (z. B.
Watkins/Johnston, 2000). Lücken im Lebenslauf sind kaum aus­
sagekräftig (Frank/Wach/Kanning, 2017), ebenso wie sportliche
Aktivitäten (Kanning/Kappelhoff, 2012) oder soziales Engage­
ment (Kanning/Woike, 2015). Die biografischen Fakten im Le­
benslauf liefern nur geringe Informationen über die Ausprägung
der „Big Five“ (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Verträg­
lichkeit, Gewissenhaftigkeit, s. u.), wobei die Entscheidungsträ­
ger nicht in der Lage sind, diese Informationen zutreffend zu
interpretieren (Cole/Feild/Giles/Harris, 2009). Die Einschätzung
der Big Five durch Personen, welche die Bewerbungsunterlagen
sichten, steht also in keinem signifikanten Zusammenhang zur
gemessenen Ausprägung dieser Merkmale der Bewerber/-innen.
Sichtung von Bewerbungsunterlagen in der Praxis
Einen Einblick in die Praxis der Sichtung von Bewerbungsun­
terlagen in Deutschland liefert eine aktuelle Befragung von 244
Praktikern (Kanning, 2016a). Hier zeigt sich, dass Arbeitgeber
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