PERSONALquarterly 4/2018 - page 26

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PERSONALquarterly 04/18
SCHWERPUNKT
_DIVERSITÄT & INKLUSION
I
m Herbst 2017 machte der Fall von Hannah, einer 14-jäh-
rigen Schülerin aus dem Kreis Pinneberg, deutschland-
weite Schlagzeilen (vgl. u. a. Spiegel online). Hannah hat
Trisomie 21 und bekam aufgrund dieser Behinderung
von mehr als 50% einen deutschen Schwerbehindertenausweis
zugesprochen. Ein solcher Ausweis soll einen Nachteilsaus-
gleich aufgrund der Behinderung ermöglichen. Zu den damit
verbundenen Privilegien können u. a. ein erhöhter Kündigungs-
schutz, bezahlter Zusatzurlaub, Steuererleichterungen oder ein
Erlass der Rundfunkgebühr zählen. Für Hannah gibt es noch
einen weiteren Vorteil, nämlich die unentgeltliche Beförderung
im öffentlichen Personennahverkehr, den sie gerne nutzt. Mit
der Zeit musste sie jedoch feststellen, dass sie zwar kein Geld
für die Busfahrt bezahlen muss, sehr wohl aber einen nichtmo-
netären Preis bezahlt: Bei jedem Einstieg musste sie dem Bus-
fahrer ihren Schwerbehindertenausweis vorzeigen, der belegt,
dass sie anders ist als die anderen Fahrgäste. Schließlich fand
sie sich mit dieser täglich wiederkehrenden und aus ihrer Sicht
höchst unangenehmen Situation nicht mehr ab. Sie überklebte
das Label „Schwerbehindertenausweis“ mit einer eigenen, für
sie passenderen Bezeichnung. So entstand der „Schwerinord-
nungausweis“, der in kurzer Zeit in den sozialen Netzen Furore
machte und inzwischen u. a. in Niedersachsen als offizielle und
kostenlose Hülle für den regulären Schwerbehindertenausweis
angeboten wird.
1
Dieses Beispiel führt auf eindringliche Weise vor Augen,
wie Stigma und Labelling im Falle von Behinderung zusam-
menspielen und für die Betroffenen höchste negative Effekte
hervorrufen können, zu welchen u. a. eine verringerte soziale
Inklusion gehören. Obwohl staatliche Organe sicher alles an-
dere wollen, als Menschen mit Behinderung noch weiter zu
exkludieren, können sich solche Effekte ungewollt einstellen.
Im vorliegenden Artikel wollen wir daher anhand zweier ak-
tueller Forschungsarbeiten darstellen, wie Stigma im Behin-
derungskontext wirkt und welche Interventionsmöglichkeiten
bestehen, um negative Folgen zu reduzieren.
Definition und Treiber von Stigma
Stigma ist ein zentrales Konstrukt, um die Herausforderungen
der beruflichen und gesellschaftlichen Inklusion von Men-
Behinderungsbedingtes Stigma –
Herausforderungen und Lösungsansätze
Von
Prof. Dr. Stephan Böhm
(Universität St. Gallen),
Prof. Dr. David Dwertmann
(Rutgers University) und
Anna Brzykcy
(Universität St. Gallen)
schen mit Behinderung zu verstehen und positiv zu gestalten.
Stigma wird definiert als „ein physisches, psychisches oder
soziales Merkmal, durch das eine Person sich von den übrigen
Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gruppe, der sie angehört,
negativ unterscheidet und das sie von vollständiger sozialer
Anerkennung ausschließt“ (Peuckert, 1992: 333). Im spezi-
fischen Kontext von Behinderung nennt Jones (1984) sechs At-
tribute, die über das Ausmaß des Stigmas bestimmen. Dies sind
Verbergbarkeit, Verlauf, Störpotenzial, Gefährdungspotenzial,
Ästhetik und Ursprung.
Demnach wird eine Behinderung dann als weniger stigmati-
sierend angesehen, wenn sie nicht sofort ersichtlich ist, wenn
sie einen stabilen Verlauf zeigt und sich nicht verschlechtert,
wenn sie nicht zur subjektiven Störung anderer führt, wenn
von ihr keine Gefahr ausgeht (z. B. durch Ansteckung), wenn
sie ästhetisch nicht störend ist und der Träger sie nicht „schuld-
haft“ erworben hat. Diese Attribute erklären, warum bspw.
eine HIV-Infektion zumindest in der Vergangenheit als höchst
stigmatisierend galt (u. a. progressiv, ansteckend, mitunter
„selbst verschuldet“), während dies z. B. für eine sensorische
Behinderung deutlich weniger der Fall ist (McLaughlin/Bell/
Stringer, 2004). Auch für heute immer häufiger diagnostizierte
psychische Erkrankungen und die damit einhergehenden
Behinderungen erklärt das Stigmakonzept, warum diese als
besonders problematisch gelten (Baldridge et al., 2018). So
werden psychische Erkrankungen oftmals als nichtstabil, stö-
rend für andere und potenziell gefährlich wahrgenommen.
Unterscheidung nach Stigmatypen
Neben diesen Treibern von Stigma ist eine Unterscheidung
nach Stigmatypen wichtig. Unterschieden werden können die
gesellschaftliche Stigmatisierung, die Selbststigmatisierung
sowie die Stigmatisierung durch Assoziierung. Unter gesell-
schaftlicher Stigmatisierung wird die starke Verbreitung und
Zustimmung der Öffentlichkeit zu gängigen Stereotypen in Hin-
blick auf bestimmte Gruppen verstanden. Besonders intensiv
erforscht wurden diese für psychische Erkrankungen. Typische
Stereotype umfassen hier z. B. die angenommene Gefährlich-
1 Vgl.
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