PERSONALquarterly 4/2018 - page 20

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PERSONALquarterly 04/18
SCHWERPUNKT
_DIVERSITÄT & INKLUSION
W
enn man mit dem Flugzeug fliegt, hebt man lang-
sam ab – anders als bei einer Rakete, die steil in
die Luft steigt. Um wie eine Rakete abzuheben,
benötigt man jede Menge Kraft, die Schwerkraft zu
überwinden. Ich habe nicht so viel Kraft. Ich muss – genau wie ein
Flugzeug – langsam abheben. Ich war in einigen Unternehmen
und habe das erklärt, aber dann hieß es immer „Zeit ist Geld“ und
dass sie keine Zeit hätten. (Yosef
1
, Callcenter-Mitarbeiter)
Die WHO (2011) geht davon aus, dass ca. 15% der Weltbevöl-
kerung bzw. über eine Mrd. Menschen mit einer Behinderung
leben. Das macht sie zu einer der größten Minderheitsgruppen
weltweit. Davon sind 785 Mio. Menschen im erwerbsfähigen
Alter, jedoch ist die Arbeitslosenquote durchschnittlich doppelt
so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung (OECD, 2010).
Diese Situation ist nicht zufriedenstellend, eine höhere Be-
schäftigungsquote wäre für alle Beteiligten höchst vorteilhaft.
Zunächst natürlich für die Menschen mit Behinderung selbst:
So konnten verschiedene Studien zeigen, dass Arbeitslosigkeit,
aber auch anhaltende Unterbeschäftigung oder unpassende
Arbeit negative Effekte auf das Selbstbewusstsein und die psy-
chische Gesundheit haben (vgl. u. a. Dooley, 2003). Dies gilt
insb. auch für Menschen mit Behinderung, für die Arbeit zu
einer besseren sozialen Inklusion führt und positive Effekte für
ihr Wohlbefinden und ihre Lebenszufriedenheit hat (Konrad
et al., 2013). Gleichzeitig steigt durch Arbeit und das damit
verbundene Erwerbseinkommen die persönliche Unabhän-
gigkeit sowie die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.
Aber auch für Unternehmen ist eine verstärkte Beschäftigung
von Menschen mit Behinderung äußerst relevant. Hierdurch
können sie ihr Rekrutierungspotenzial erweitern, was gerade
in Zeiten eines „War for Talents“ zunehmend relevant wird.
Darüber hinaus können durch Diversität Vorteile im Bereich
der Innovation und Kundenansprache realisiert werden, da
unterschiedliche Kundenwünsche von einer heterogenen Be-
legschaft besser verstanden und adressiert werden können.
Weiterhin können auch Aspekte der Corporate Social Respon-
sibility sowie die Erfüllung gesetzlicher Vorgaben wie Quoten
eine Rolle spielen. Zuletzt profitiert auch der Staat von einer
höheren Beschäftigungsquote – zum einen durch reduzierte
Sozialausgaben und höhere Beiträge, zum anderen durch eine
Führung als Erfolgsfaktor für die Inklusion von
Menschen mit Behinderung
Von
Dr. Julia Kensbock
(Maastricht University) und
Prof. Dr. Stephan Böhm
(Universität St. Gallen)
inklusivere und letztlich gerechtere Gesellschaft (Baldridge et
al., im Druck). Trotz dieses klaren Nutzens für alle Beteiligten
ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung im ersten
Arbeitsmarkt bis heute keine Selbstverständlichkeit, wie die
niedrigen Beschäftigungsquoten zeigen. Eine bedeutsame Rol-
le kommt daher engagierten Unternehmen zu, die eine aktive
Inklusionsstrategie verfolgen und Menschen mit Behinderung
bewusst einstellen.
Doch was macht eine erfolgreiche Inklusionsstrategie aus?
Verschiedene Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass
Unternehmen ein möglichst holistisches Konzept verfolgen
sollten, das u. a. die Bereiche Führung, Unternehmenskultur
und -klima sowie HR-Praktiken (z. B. Rekrutierung, Arbeits-
platzgestaltung, Karrieremanagement etc.) umfassen sollte
(Boehm/Dwertmann, 2015; Schur et al., 2009). Hierbei kommt
den Führungskräften eine besonders wichtige Stellung für
den Inklusionserfolg zu, da sie das unmittelbare Arbeitsum-
feld (u. a. Arbeitsaufgaben und Fristen) sowie die sozialen Be-
ziehungen am Arbeitsplatz nachhaltig prägen (Dwertmann/
Boehm, 2016). Leider hat die empirische Forschung zur Inklu-
sion dem Thema Führung noch nicht die notwendige Aufmerk-
samkeit geschenkt, weshalb im Folgenden ein Schwerpunkt
hierauf gelegt werden soll.
Ein Callcenter wird zum Vorreiter für Inklusion
Knapp 3.000 Kilometer von Deutschland entfernt, in einem
Industriegebiet im Süden Tel Avivs, hat eine dieser besonderen
Firmen ihren Sitz. Das hier ansässige Callcenter gilt über die
Grenzen Israels hinaus als Pionierunternehmen für die beruf-
liche Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Insgesamt
beschäftigte das Callcenter zur Zeit der Durchführung unserer
Studie (Kensbock/Boehm, 2015) insgesamt 120 fest angestellte
Mitarbeitende – fast alle mit irgendeiner Form von Behinde-
rung, darunter auch zahlreiche Führungskräfte. Unter den An-
gestellten sind Personen mit körperlichen Behinderungen, die
u. a. auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ein eingeschränktes
Hör- oder Sehvermögen oder auch Autoimmunerkrankungen
haben. Andere Angestellte haben psychische Erkrankungen,
darunter posttraumatische Belastungsstörungen, bipolare Stö-
rungen oder Schizophrenie.
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