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PERSONALquarterly 04/18
SCHWERPUNKT
_DIVERSITÄT & INKLUSION
2017). Zusammengenommen ist die Wahrscheinlichkeit hoch,
dass Menschen mit Behinderung im Laufe ihres Lebens immer
wieder Erfahrungen sammeln, die sich negativ auf ihr Selbst-
bewusstsein auswirken.
Als die Angestellten des Callcenters in den Interviews ih-
re persönliche Geschichte und ihren beruflichen Werdegang
schilderten, hörten wir viele Berichte über wiederkehrende
Rückschläge, Enttäuschungen und Ablehnungen. Alle Be-
fragten äußerten, wie sehr sie sich eine Arbeit gewünscht
hatten, aber keine Chance erhielten, sich zu beweisen, Diskri-
minierung erfuhren oder nach kurzer Zeit entlassen wurden.
Yosef, Mitarbeiter des Callcenters, berichtete über eine frühere
Arbeitsstelle und seinen ersten Tag dort:
Mir wurde gesagt, ich müsse zehn Teile anfertigen. Ich habe
es versucht, habe aber nach einem Tag nur fünf statt zehn Teile
geschafft. Mir wurde gesagt: „Das reicht nicht. Wir brauchen
Leute, die schneller arbeiten.“ Ich habe geantwortet: „Das ist doch
erst mein erster Tag und nur ein paar Arbeitsstunden. Geben Sie
mir eine Chance – ich will ein Zuhause haben.“ Ich habe immer
gesagt, dass ich ein Zuhause will – damit meinte ich eine Arbeit.
Sie haben gesagt: „Nein, wir haben kein Geld, um Sie erst auszu-
bilden – das war’s!“ Nach zwei Jahren, in denen immer wieder
solche Dinge geschahen, bekam ich Depressionen.
In den Interviews wurde auch deutlich, wie positiv sich die
Arbeit im Callcenter auf das Selbstbewusstsein der Angestell-
ten auswirkte. Die Teilnehmer berichteten, wie – oftmals zum
ersten Mal in ihrem Leben – in ihnen die Überzeugung he-
ranwuchs, einen wichtigen Beitrag bei der Arbeit leisten zu
können und einem anspruchsvollen, „normalen“ Job nachzu-
gehen. Esther, eine Führungskraft, erzählte von einem ihrer
Mitarbeiter und seiner positiven individuellen Entwicklung:
Im Vorstellungsgespräch hat erst niemand daran geglaubt,
dass er es schaffen wird. Er hatte null Selbstvertrauen. Trotzdem,
ich habe irgendwie gespürt, dass er sehr gut sein wird, wenn wir
ihm die richtigen Werkzeuge an die Hand geben. Es war verblüf-
fend zu sehen, wie er nach zwei Monaten Arbeit auf einmal ge-
spürt hat, wie es ist, Erfolg zu haben. Er wirkt heute ganz anders,
ein komplett anderer Mensch.
Die Beraterin des Callcenters berichtete:
Menschen, die es gewohnt sind, jeden Monat von einem Job in
den nächsten zu wechseln, ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermit-
teln, ist eine Herausforderung. Michael beispielsweise war einer
derjenigen, die anfangs große Angst bei der Arbeit hatten. Bei
jedem kleinen Konflikt hatte er das Gefühl „Jemand wird mich
jetzt nach Hause schicken“. Wir mussten ihm erst das sichere
Gefühl vermitteln: „Du gehörst zu uns, niemand wird dich nach
Hause schicken, alles ist gut.“
In den Interviews wurde schnell klar, dass die Steigerung des
Selbstbewusstseins ein Schlüssel für die erfolgreiche Inklusion
der Callcenter-Mitarbeitenden ist und dass den Führungskräf-
ten in diesem Prozess eine besondere Rolle zukommt.
Transformationale Führung als Instrument der Inklusion
In den Gesprächen wurde Führung immer wieder als zentra-
les Thema genannt. Doch wie genau verhalten sich die Füh-
rungskräfte, welche Führungsgrundsätze unterliegen ihrem
Verhalten? Um einen genaueren Einblick in das konkrete Füh-
rungsverhalten zu bekommen, orientierten wir uns an dem
Konzept der transformationalen Führung (Bass, 1985). Trans-
formationale Führungskräfte verändern („transformieren“)
das Verhalten ihrer Angestellten, indem sie eine inspirierende
Vision vermitteln, ihre Rolle als Vorbild und Mentor ernst neh-
men sowie Mitarbeitende zu Selbstverantwortung ermutigen.
In den Interviews berichteten die Befragten von allen vier
zentralen Dimensionen der transformationalen Führung.
1. Inspirierende Motivation
Inspirierende Motivation bezeichnet ein Verhalten, bei dem
die Führungskraft eine ansprechende und inspirierende Vi-
sion formuliert und kommuniziert. Auch die Studienteilneh-
mer berichteten von einer kollektiven Mission, die von allen
Angestellten geteilt und von den Führungskräften artikuliert
werde. Die Vision beinhalte, dass das Wohlergehen und die
Weiterentwicklung der Angestellten über allen geschäftlichen
Aktivitäten stehe. Die Beraterin des Callcenters berichtete:
In den meisten Firmen geht es in den Meetings immer um Ergeb-
nisse. Wir haben den Grundsatz, dass die Ergebnisse von alleine
kommen, wenn wir unsere menschlichen Ressourcen so gut wie
möglich behandeln und mit ihnen arbeiten. Unsere Meetings dre-
hen sich um die Menschen und was wir mit ihnen tun. Das ist eine
andere Art zu denken! Wir investieren in die Menschen. Manch-
mal ist das eine gute Investition, manchmal auch nicht, aber wir
investieren in die Menschen, weil es das ist, was uns wichtig ist.
Der starke Fokus auf das Wohlergehen der Angestellten wur-
de auch in der Strategie bei der Rekrutierung neuer Führungs-
kräfte deutlich. Hier werde laut der Beraterin weniger Wert auf
die technische Qualifikation und mehr darauf gelegt, dass die
neue Führungskraft die Vision verinnerlicht habe:
Wir schauen immer als Erstes darauf, dass die Person die rich-
tige Einstellung und Motivation hat. Wir glauben, dass man sich
die geschäftliche Seite unserer Arbeit auch nachträglich aneignen
kann, wenn man nicht aus der Callcenter-Branche kommt.
2. Idealisierter Einfluss
Führungskräfte, die idealisierten Einfluss im Sinne der trans-
formationalen Führungstheorie ausüben, investieren einen
Großteil ihrer eigenen Zeit und Energie, um die gemeinsame,
kollektive Mission zu realisieren. Dies erfordere laut Rivka, ei-
ner Führungskraft des Callcenters, oftmals hohe Anstrengung
aufseiten der Führungskraft und die Bereitschaft, das kollek-
tive Interesse über das Eigeninteresse zu stellen:
Anderswo würde mein Vorgesetzter zu mir sagen: „Wenn er
nicht gut genug ist, dann musst du ihn entlassen!“ Hier tun wir
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