PERSONALquarterly 1/2017 - page 54

PERSONALquarterly 01/17
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STATE OF THE ART
_RECRUITING
C
andidate Experience Management ist eine ver-
gleichsweise moderne Erscheinung im Personalma-
nagement. Der traditionelle Fokus zur Wirkung von
Recruitingaktivitäten liegt auf der Effizienz der Pro-
zesse und der Qualität der Bewerberauswahl. Seit Unterneh-
men zunehmend Schwierigkeiten haben, geeignete Bewerber
zu finden, rückt die Arbeitgeberattraktivität im Allgemeinen
und insbesondere die Wirkung des Rekrutierungsprozesses
auf die Bewerber in den Vordergrund. Inhaltlich handelt es sich
um die Übertragung des Marketingkonzepts „Customer Expe-
rience Management“ auf das Personalmanagement. Im Fokus
der Betrachtung stehen die Erfahrungen und Eindrücke, die
ein Kunde an unterschiedlichen Stationen (sogenannten Touch-
points) während des Kaufprozesses gewinnt, und deren Ein-
fluss auf die Wahrnehmung der Attraktivität von Produkten,
Dienstleistungen oder eben Arbeitsplätzen (Verhoeven, 2015,
S. 8-9). Allerdings sind diese aktuellen Überlegungen auch
im Personalmanagement nicht vollständig neu: Bereits in den
1980er-Jahren prägte Heinz Schuler den Begriff der „Sozialen
Validität“, d.h. die Reaktion der Bewerber auf Personalauswahl-
verfahren (Schuler, 1993), der imAnschluss als eigenständiges
Gütekriterium Eingang in die Lehrbücher zur Eignungsdiag­
nostik gefunden hat. In Schulers Modell entsteht soziale Vali-
dität durch vier Faktoren: hinreichende Information über den
Arbeitsplatz, Partizipation der Bewerber am Auswahlprozess,
Transparenz und Feedback (Schuler, 1993, S. 12-13). In diesem
Kontext untersuchten Anderson et al. (2010, S.296) metaanaly-
tisch die Präferenzen der Bewerber bezüglich der eingesetzten
Personalauswahlverfahren, wobei sich eine hohe Zustimmung
zum Einsatz von Einstellungsinterviews (Mittelwert 5,2 auf
einer Skala von 1-7) und Arbeitsproben (5,4), eine mittlere
Zustimmung für Intelligenztests (4,6) und Persönlichkeitstests
(4,3) und eine geringe Zustimmung für grafologische Gutach-
ten (2,3) ergaben. Die Präferenzordnung erweist sich zudem
als weitgehend kulturunabhängig und ist über Ländergrenzen
hinweg relativ homogen.
Wir wollen im Folgenden weitere empirische Ergebnisse
bezüglich der Candidate Experience vorstellen, wobei insbe-
sondere folgende Fragen im Vordergrund stehen: Welche re-
lative Bedeutung haben Eindrücke im Rekrutierungsprozess
im Vergleich zu objektiven Kriterien wie Arbeitsplatz- und
Organisationseigenschaften? Variiert die Bedeutung der Ein-
flussfaktoren im Verlauf des Rekrutierungsprozesses? Welche
Verhaltensweisen sollten Unternehmensvertreter in Interview-
situationen zeigen und welchen Einfluss hat Feedback bezüg-
lich des Bewerberverhaltens durch die Unternehmen auf die
Arbeitgeberattraktivität?
Relative Bedeutung der Candidate Experience
In einer sehr umfassenden Studie mit über 100.000 Einzelbe-
obachtungen untersuchten Krista L. Uggerslev, Neil E. Fassina
und David Kraichy (2012) die Wirkung unterschiedlicher Ein-
flussfaktoren auf die Arbeitgeberattraktivität. Arbeitgeberat-
traktivität ist hier als abhängige Variable breit definiert und
umfasst z.B. sowohl die Einstellung gegenüber demArbeitgeber
als auch die Bereitschaft, den Bewerbungsprozess fortzufüh-
ren. Die Effektstärken sind zusammenfassend in Abbildung 1
dargestellt. Arbeitsplatz- und Organisationseigenschaften sind
insgesamt am wichtigsten für die Einschätzung der Arbeit-
geberattraktivität. Die Differenz zu Elementen des Candidate
Experience Management wie Recrutingprozess und Verhal-
ten der Recruiter ist aber vergleichsweise gering. Neben den
abgebildeten Zusammenhängen weist die wahrgenommene
Passung („person-job“ und „person-organization fit“) mit einer
Korrelation von 0,55 den größten Zusammenhang zur Arbeit-
geberattraktivität auf. Dieser Befund ist wenig überraschend,
da die wahrgenommene Passung insbesondere die Intention
beeinflussen dürfte, in die Organisation einzutreten.
Darüber hinaus zeigen sich deutliche Unterschiede in den Sub-
kategorien: Bei den Arbeitsplatzeigenschaften wirken Entwick-
lungsmöglichkeiten (r=0,42) und herausfordernde Tätigkeiten
(0,39) besonders stark auf die Arbeitgeberattraktivität. Bei den
Organisationseigenschaften sind die Reputation (0,45) und die
Arbeitsbeziehungen (0,49) besonders bedeutsam. Bezüglich
des Rekrutierungsprozesses sind einzelne Subkategorien in
Abbildung 1 aufgeführt. Insbesondere der Webseite kommt be-
züglich Ästhetik und Nutzerfreundlichkeit eine große Bedeu-
tung zu. Übergreifend zeigt sich, dass Candidate Experience
eine fast gleich große Bedeutung für die Arbeitgeberattraktivi-
tät aufweist wie Arbeitsplatz- und Organisationseigenschaften.
Candidate Experience – Arbeitgeber­
attraktivität im Bewerbungsprozess
Von
Prof. Dr. Torsten Biemann
(Universität Mannheim) und
Prof Dr. Heiko Weckmüller
(FOM Bonn)
1...,44,45,46,47,48,49,50,51,52,53 55,56,57,58,59,60,61,62,63,64,...68
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