PERSONALquarterly 1/2017 - page 45

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hergesehen oder abgeschätzt werden können, sind Beschäftigte
mit andauernder Ungewissheit aufgrund von fehlendem Wissen
konfrontiert. Sie müssen ständig damit rechnen, etwas nicht zu
wissen, und operieren daher in permanenter Unsicherheit da­
rüber, ob sie genug passendes Wissen in der richtigen Qualität
haben, um ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen zu können.
Konsequenzen für Unternehmen
Aufgrund der Risiken und Möglichkeiten, die aus der Unter­
schiedlichkeit resultieren, mit der Personen mit Wissen und
Nichtwissen umgehen, ist es für Unternehmen bedeutsam, die­
sen Umgang aktiv zu gestalten. Dazu können Faktoren wie die
Unternehmenskultur angepasst werden, in Richtung einer Offen­
heit im Umgang mit dieser Thematik, und zusätzlichen Weiter­
bildungsmaßnamen zum Umgang mit Grenzen und Nichtwissen.
Eine Möglichkeit zur Identifizierung bestimmter Persönlich­
keitsfaktoren, die eine Toleranz gegenüber Situationen mit hoher
Unsicherheit und hohem Nichtwissen gewährleisten, wurde mit
der beschriebenen Methode präsentiert. Mit diesen Instrumenten
können unternehmensweite Case-Studies mit detaillierten (Struk­
turgleichungs-)Analysen durchgeführt werden. Diese Verfahren
können helfen, entsprechende Personal- und Organisationsent­
wicklungsmaßnahmen zu fundieren. Organisationen sollten sich
dabei auch des Phänomens der Wissensüberschätzung bewusst
werden und entsprechende Tests für die Personalauswahl und
den Personaleinsatz nutzen. In Situationen, in denen Nichtwis­
sen ausgehalten werden muss und toleriert werden kann (z.B.
in neuen, unbekannten Bereichen oder den Anfangsphasen von
Projekten), können überschätzende Personen, wie Berufsanfän­
ger, vorteilhaft eingesetzt werden. In nichtwissenssensiblen Be­
reichen, in denen realistische Einschätzungen notwendig sind,
sollte verstärkt auf ältere Beschäftigte mit mehr Berufserfahrung
in mittleren Positionen zurückgegriffen werden. Dies würde zu­
dem dafür sprechen, Beschäftigte und ihr Know-how langfristig
an die Organisation zu binden. Beispielhaft lässt sich dies für
Beratungsorganisationen skizzieren, die Konsequenzen bestehen
imKern allerdings für alle Unternehmen. Für Beratungsorganisa­
tionen sind die dargestellten Zusammenhänge aufgrund der für
die Beratungsbranche üblichen hohen strukturellen Fluktuation
aufgrund einer ausgeprägten „Up-or-out-Praxis“ allerdings beson­
ders problematisch. Durch eine starke Fluktuation von Beratern
wird ein hoher Anteil an Beratern mit geringer Erfahrungsspanne
produziert, weil sie die Beratung verlassen müssen, bevor sie
genug Erfahrungen sammeln konnten. Damit soll erreicht wer­
den, dass nur erfolgreiche Berater in der Organisation verblei­
ben. Den Ergebnissen zufolge führt dies aber zu einer Erhöhung
des Anteils an Beratern, die ihr Wissen überschätzen und damit
ein hohes Risiko für Fehlentscheidungen generieren. Und zwar
nicht nur, weil verstärkt neue, junge und unerfahrene Berater
eingestellt werden müssen, sondern auch weil die Überschätzung
mit der Höhe der Position steigt. Die Ergebnisse zeigen, dass gut
ausgebildete und erfolgreiche Berater mit hohen Positionen ihr
Wissen überschätzen und ihr Nichtwissen unterschätzen. Ein ho­
her formaler Bildungsgrad führt eben nicht automatisch zu einer
besseren Einschätzung der eigenen Wissensbasis, im Gegenteil:
Ein hoher Bildungsstand begünstigt eine Überschätzung. Eben­
so steigt die Überschätzung mit der Höhe der im Unternehmen
bekleideten Position. Dies deckt sich mit Erkenntnissen aus vor­
liegenden Studien, nach denen die Überschätzung mit steigender
Bildung
1
, Expertise
2
und Erfolg
3
zunimmt.
Erklärbar wären diese Zusammenhänge mit einer Über­
tragung von vergangenen Erfolgen auf aktuell zu lösende
Problemstellungen. Während sich Personen, die in der Vergan­
genheit erfolgreich waren, auch in der aktuellen Situation als
erfolgreich überschätzen, schätzen sich weniger erfolgreiche
Personen realistisch ein oder unterschätzen sich sogar. Per­
sonen mit realistischen Einschätzungen schaffen mit dieser
Kompetenz die Voraussetzung für rationale Entscheidungen,
vor allem unter Umwelt- und Entscheidungsbedingungen, die
sich permanent ändern.
Die in der angesprochenen Studie generierten Erkenntnisse
zeigen, dass Berater in Bezug auf das, was sie wissen und
nicht wissen, mit zunehmendem Alter und Erfahrung weiser
werden, während zunehmende Bildung, Expertise und Erfolg
in einer Weise wirken, dass eine verzerrte Einschätzung über
eigene Wissensressourcen begünstigt wird. Durch die sta­
tistischen Auswertungen konnten unbekannte Beziehungen
entdeckt, quantifiziert und spezifiziert werden und somit der
Stand der Forschung ergänzt werden.
Die Kopplung von Erfolg, Bildung, Expertise und Überschät­
zung erzeugt für Beratungsorganisationen und ihre Klienten
allerdings ein hohes Gefahrenpotenzial aus unterschätztem
Nichtwissen, da gerade die Personengruppe der erfolgreichen
Berater in hohen organisationalen Positionen über ein erheb­
liches Entscheidungsvermögen mit einer großen Reichweite
der Entscheidungen verfügt.
Andererseits kann genau dieses Ausblenden von Nichtwis­
sen und das Überschätzen von Wissen eine Basiskompetenz
für (erfolgreiche) Berater sein. Das Phänomen wäre dann nicht
als Ergebnis von Erfolg oder einem zu ausgeprägten Selbst­
bewusstsein zu verstehen, etwa aufgrund von viel positivem
Feedback, bei dem der Entscheider vergangene Erfolge auf
aktuelle und zukünftige Probleme projiziert. Im Gegenteil
könnten die empirischen Ergebnisse auch so ausgelegt wer­
den, dass ein strukturelles Überschätzen ein Erfolgsfaktor, ei­
ne Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Beraterlaufbahn
ist. Der Erfolg von Beratern mit überschätzenden Tendenzen
könnte damit erklärt werden, dass ein sich überschätzender
Berater mit einer offensiven Selbstdarstellung und einem ag­
1 Lichtenstein/Fischhoff (1977)
2 Kirchler/Maciejovsky (2002); Langer/Roth (1975)
3 Gervais und Odean (2001); Nisbett und Ross (1980)
1...,35,36,37,38,39,40,41,42,43,44 46,47,48,49,50,51,52,53,54,55,...68
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