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_DIE FAKTEN HINTER DER SCHLAGZEILE
PERSONALquarterly 01/17
D
as Handelsblatt titelte am 20. September 2016:
„Händler, traut eurem Bauchgefühl!“ Mit Ausrufe
zeichen. Und wohl wissend, auf welcher Vorurteils
klaviatur der Artikel spielt. Basis des Artikels ist
eine kleine Studie, veröffentlicht in den Scientific Reports,
einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift der internationalen
Springer-Tochter Nature mit Hauptsitz London.
John Coates untersuchte mit einem Team aus Medizinwis
senschaftlern der University of Cambridge physiologische Da
ten von 18 Hochfrequenz-Händlern, die bei einem Londoner
Hedgefond unter Vertrag sind. Coates kennt die Welt des Deri
vatehandels gut: Zwölf Jahre lang arbeitete er in diesem Sektor
– für Goldman Sachs, Merill Lynch und für die Deutsche Bank.
Und auch in den Neurowissenschaften hat er sich bereits um
getan. Seine Erkenntnisse über den Einfluss der Biologie auf
Entscheidungen von Kapitalmarkthändlern veröffentlichte er
2012 in dem Buch „The hour between dog and wolf“.
Jetzt also eruierte das siebenköpfige Cambridge-Team, wie
präzise die Händler ihren eigenen Herzschlag erspüren konn
ten. Immer wieder und in zufälligen Situationen mussten
sie die Dichte der Herzschläge schätzen, ohne ihren Puls zu
fühlen. Gemessen und kontrolliert haben dann die Wissen
schaftler – und die fanden einen Zusammenhang: Diejenigen
Hochfrequenz-Händler mit Risikoneigung, die ihre eigene
Herzfrequenz besser einschätzen konnten, verdienten mehr
Geld als jene, die die Schätzaufgabe schlechter bewältigten.
Im Durchschnitt lagen die Händler bei 78,2 Prozent, woge
gen die Kontrollgruppe aus Studierenden nur auf 66,9 Prozent
kam. Die Wissenschaftler fragten nicht nur die Körperempfin
dungen ab, sondern auch berufliche Werdegänge. Im Vergleich
stellte sich heraus, dass Händler mit einer Berufserfahrung
von mindestens acht Jahren sogar eine Quote von 85,3 Prozent
erreichten, diejenigen mit weniger als vier Jahren dagegen nur
auf einen Durchschnitt von 68,7 Prozent kamen.
Entscheidungsprozesse objektivieren
Damit stellt sich unweigerlich die Frage, was eigentlich ein
Bauchgefühl ist und wie es Leistungen und Entscheidungen
beeinflusst. Im deutschen Sprachraum sind es diffuse Begriffe,
die beschreiben, dass Gefühle eine Rolle spielen: Die einen
Personalmanager tun sich schwer, dem Bauchgefühl das Gewicht offen zuzugestehen,
das es hat. Dabei verhilft ein reflektierender Umgang mit Gefühlen zum Erfolg.
Emotionen als Entscheidungstreiber
haben eine Ahnung oder Eingebung, die anderen ein Gespür,
hören eine innere Stimme oder fühlen ein Bauchgrummeln
oder gar heftige Herzschläge. Unbestritten ist, dass Emoti
onen immer Bestandteil von Entscheidungsprozessen sind.
Bildungsfachleute und Personalmanager haben in den vergan
genen Jahren viel Gehirnschmalz darin investiert, die Gefühle
in den Griff zu bekommen, ihren Einfluss zu minimieren und
Entscheidungsprozesse zu objektivieren.
Am Lehrstuhl Organisation und Personalwesen der Univer
sität Potsdam promovierte Benjamin Apelojg 2010 zum The
ma Emotionen in der Personalauswahl. Er untersuchte vier
Bauchgefühl-Entscheidungsmuster: Bauchentscheidungen,
Gegen-den-Bauch-Entscheidungen, Emotionen reflektierende
Entscheidungen und Emotionen neutralisierende Entschei
dungen. Apelojg fand durch Befragungen heraus, dass es vor
allem wichtig ist, auf negative Gefühle zu achten, aber posi
tive Gefühle nicht zur alleinigen Entscheidungsgrundlage zu
machen. Zwar mag eine Bauchentscheidung erst einmal zu
Zufriedenheit führen, ob sie langfristig ökonomisch Bestand
hat, bleibt aber offen. Der Jungwissenschaftler plädiert „für
Emotionen reflektierende Entscheidungen, die die Herkunft
der Gefühle berücksichtigen“. Das fördere die Qualität der
Personalentscheidungen. Der Forscher findet, man solle „nach
neuen Wegen suchen, die einerseits einen differenzierten Um
gang mit Emotionen pflegen und andererseits die Instrumente
der anforderungsorientierten Personalauswahl nutzen“.
Wirksamkeit von Gefühlen in Lernprozessen
Doch nicht nur beim Rekrutieren sucht er nach dem Einfluss
von Emotionen. Er ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum
Lehrstuhl für Technologie und berufliche Orientierung ge
wechselt. Gerade legen Benjamin Apelojg und sein Team den
Forschungsschwerpunkt auf die Wirksamkeit von Gefühlen in
Lernprozessen. Mit der von ihm entwickelten Felix-App wer
den Emotionen, Motivation und Bedürfnisse in Lehr- und Lern
kontexten sowie in Arbeitskontexten erfasst – in Echtzeit. Die
Studierenden in seinen Lehrveranstaltungen sind es gewohnt,
in unregelmäßigen Abständen ihre Bedürfnisse zu beobachten
und zu erfassen: Wie wirken die Lust auf Ruhe oder Nahrung,
frische Luft oder Bewegung auf den Lernerfolg? Wann ist die
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf