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_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
PERSONALquarterly 01/17
I
m April 2013 prognostizierte der Politikjournalist Niko
laus Blome den vorzeitigen Rücktritt von Bundeskanzlerin
Merkel im Falle einer Wiederwahl für das Jahr 2015. Be
gründung: Die Kanzlerin hatte 10 Jahre als maximal sinn
volle Amtszeit genannt, Verständnis für Ausstiege geäußert und
wollte lieber freiwillig zurücktreten, als abgewählt zu werden.
Es kam anders. Mit politischen Prognosen beschäftigt sich Phi
lip E. Tetlock. Sein Buch „Superforecasting“ entwickelt sich zum
Bestseller. Tetlock kritisiert die gängige Praxis politikwissen
schaftlicher Beratung durch Experten, die vor allem plausible
Geschichten über die Vergangenheit erzählen. Die Überzeugung
und das Selbstbewusstsein, mit denen Ereignisse ex post als
strikt notwendig gekennzeichnet werden, stehen im Gegensatz
zur Vagheit von Vorhersagen zukünftiger Ereignisse. In frühe
ren Arbeiten (Expert Political Judgement, 2005) überprüfte er
die Güte der Prognosen von Politikexperten: Deren langfristige
Prognosen waren nicht besser als Zufallsschätzungen. Lang
fristprognosen sind in der Politik nahezu unmöglich.
Grundlage der neuerenVeröffentlichungen sind Kurzfristprog
nosen imRahmen eines Forschungsprojekts in den USAmit dem
Ziel, Prognosen des Geheimdienstes zu verbessern. Ausgeschrie
ben wurde ein Wettbewerb, bei dem politische Fragen mittleren
Schwierigkeitsgrades (z.B.: „Wird die südafrikanische Regierung
innerhalb der nächsten sechs Monate demDalai Lama ein Visum
erteilen?“) korrekt prognostiziert werden sollten. Tetlock nahm
mit freiwilligen Laien („Good Judgment Project“) teil. Innerhalb
dieser Gruppe konnte er Personen und Teams identifizieren, die
systematisch bessere Prognosen treffen, die sogenannten „Su
perforecaster“. Die Ergebnisse sind statistisch robust (z.B. be
züglich „Regression to the Mean-Effekten“) und wurden auch
in wissenschaftlich-referierten Zeitschriften veröffentlicht. Su
perforecaster zeichnen sich einerseits durch weitgehend festste
hende Eigenschaften, insbesondere Intelligenz und Neugier, aus.
Darüber hinaus ist Prognosefähigkeit aber lernbar, wie z.B. die
intensive Suche nach belastbaren Fakten, die explizite quanti
tative Formulierung von Wahrscheinlichkeiten sowie deren An
passung bei neuen Informationen im Sinne des Bayes-Theorem.
Übergreifend handelt es sich um eine eingeübte und reflektierte
Mischung aus klassischer Entscheidungslehre bei Risiko einer
seits und intuitiver Entscheidung unter Berücksichtigung von
psychologischen Entscheidungsanomalien im Sinne Kahnemans
(z.B. overconfidence oder Rückschaufehler) andererseits. Dieses
Vorgehen ist systematisch, aufwendig und anspruchsvoll.
Lehren für das Personalmanagement
Personalwirtschaftliche Entscheidungen sind oft Entscheidun
gen unter Unsicherheit, z.B. in der Personalauswahl. Wahr
scheinlichkeitsurteile als solche zu akzeptieren und trotz
Berufserfahrung und Intuition auf Beurteilungsfehler hin zu
hinterfragen, wird auch hier zu besseren Entscheidungen füh
ren. Skepsis ist angebracht, ob dies der eigenen Karriere för
derlich ist. „Wahrscheinlichkeiten sind etwas für Memmen“, mo
niert Tetlock. Die Prognosegüte ihrer Vorhersagen beeinflusse
nicht die Karriereverläufe von Politikberatern.
Skepsis hinterlassen die Untersuchungen zu Langfristprog
nosen und Expertenurteilen zudem bezüglich der im Personal
management beliebten Prophetie zu zukünftigen Arbeitswelten
2030, NewWork und der vermeintlich klaren Auswirkungen von
Demografie und Digitalisierung: Sind die Prognosen überprüf
bar formuliert, sind zumindest die Begrifflichkeiten geklärt und
beurteilen wir den Expertenstatus nicht auch vorrangig damit,
wie selbstbewusst und eloquent die Urteile vorgetragen werden?
Lern- und Übungseffekte
Quelle: Grafik auf Basis von Mellers, Barbara, et al.: „Identifying and cultivating
superforecasters as a method of improving probabilistic predictions.“ Perspectives on
Psychological Science 10.3 (2015): 267-281
Brier Score (standardisiert): Niedrige Werte zeigen höhere Prognosegüte.
0,0
-0,1
-0,2
-0,3
-0,4
0,00
1,00
Supers
Others (Baseline)
Evidenzbasierte Politikberatung durch
Superforecasting
Heiko Weckmüller,
Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management
Versuchsdauer