PERSONALquarterly 1/2018 - page 37

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01/18 PERSONALquarterly
ABSTRACT
Forschungsfrage:
Wie sieht der Erstellungsprozess von Arbeitszeugnissen aus? Wie wer­
den sie in der Personalauswahl genutzt? Welchen Stellenwert haben sie?
Methodik:
Auf der Basis eigener, kritischer Vorüberlegungen zur Zeugnispraxis wurden in
einer explorativen Studie in getrennten Fragebögen 97 Zeugnisersteller und 89 Zeugnis­
auswerter schriftlich befragt. Die Daten wurden deskriptiv ausgewertet.
Praktische Implikationen:
Die Ergebnisse legen einen Verzicht auf dieses Auswahlins­
trument wegen seiner zweifelhaften Aussagekraft nahe, zumindest aber eine deutliche
Veränderung der Erstellungspraxis.
die in Abbildung 1 aufgelisteten Beispiele ähnlich formulieren
und interpretieren?
Existiert zumindest eine einheitliche Notenskala für die Ge-
samtleistungsbewertung? Nein! Häufiger wird eine 6er-Skala
auf Basis von „Zufriedenheit“ publiziert: stets zu unserer volls-
ten Zufriedenheit (1)/stets zu unserer vollen Zufriedenheit (2)/
stets zu unserer Zufriedenheit (3)/zu unserer Zufriedenheit
(4)/im Großen und Ganzen zu unserer Zufriedenheit (5)/ be-
mühte sich, den Anforderungen gerecht zu werden (6). Das
BAG geht dagegen von einer 5er-Skala aus. Weitere stichpro-
benartige Literaturanalysen fördern schnell ein Spektrum von
Skalenlängen zwischen vier und neun Skalenpunkten zu Tage
(vgl. u.a. ausführlicher Grau/Watzka, 2016, S. 32ff.).
Die Zeugnisformulierung stellt einen ressourcenverbrau-
chenden Volumenprozess dar. Schon bei einer jährlichen
Fluktuationsquote von 10% und derzeit 44,5 Millionen Er-
werbstätigen (Stand: 9/2017,
geben sich
4,45 Millionen Anlässe für ein Arbeitszeugnis. Die meisten
dieser Zeugnisse lösen bei der Personalauswahl dann den Vo-
lumenprozess „Zeugnisanalyse“ aus.
Dies rechtfertigt die Frage nach der Effektivität der Zeugnis­
praxis. Stiftet sie Nutzen in der Personalauswahl oder ist sie
nur bürokratische Last? Die Antwort auf diese Frage hängt ent-
scheidend von Sorgfalt und Professionalität bei Zeugniserstel-
lung und -analyse, aber auch vom Stellenwert des Dokuments
bei der Personalselektion ab. Dies sollte über eine explorative
Studie näher aufgeklärt werden.
Forschungsvorgehen
Da hinter der Zeugniserstellung und -analyse eventuell ver-
schiedene Personen stehen, wurden zwei schriftliche Frage-
bögen erstellt. Fragebogen I widmete sich mit 26 Items der
Zeugniserstellung, Fragebogen II mit 21 Items der Zeugnis­
analyse (näher zur Methodik Grau/Watzka, 2016, S. 41ff.).
Im Mai 2015 wurden jeweils 500 Fragebögen an die Perso-
nalabteilungen aller Dax-, M-Dax-, S-Dax-Unternehmen, aller
Toparbeitgeber der Trendence-Studie (
aller Topinnovatoren imMittelstand
d zufällig
ausgewählter Mittelständler
rsandt. Der
Rücklauf für Fragebogen I betrug 19,4% (97) und für Fragebo-
wird das Unternehmen verlassen. Also ist es ökonomisch ra-
tional, sich einer Pflichtaufgabe mit geringstem Aufwand zu
entledigen. Der Einsatz von Mustervorlagen, Textbausteinen,
Zeugnisgeneratoren oder gar Outsourcing der Zeugniserstel-
lung liegen da nahe. Folgen sind Standardformulierungen und
schablonenhafte Erstarrung von Zeugnissen zulasten von Dif-
ferenzierung und Individualität.
Es ist Basisbedingung gelingender Kommunikation, dass
Sender und Empfänger über den gleichen Zeichensatz verfü-
gen müssen. Der präzise Austausch verschlüsselter Zeugnis­
aussagen ist nur möglich, wenn auf beiden Seiten Experten
agieren. Aber wie häufig ist diese Qualifikationssymmetrie
wirklich gegeben? Wie geschult und erfahren ist der Zeugnis­
aussteller oder -leser eines kleinen Mittelständlers, der im Jahr
nur wenige Zeugnisse zu schreiben oder zu lesen hat? Bei
Qualifikationsasymmetrien zwischen Sender und Empfänger
treten Fehlinterpretationen zwangsläufig auf.
Eine Schulung der Beteiligten setzt voraus, dass es eine defi-
nierte Zeugnissprache gibt, die über ein Curriculum lehr- und
lernbar ist. Gibt es sie wirklich? Die Durchsicht von Lehrbü-
chern und Ratgeberliteratur nährt den Verdacht, „jeder weiß et-
was, aber jeder etwas anderes“. Würden wirklich alle Praktiker
Quelle: Backer (2008), S. 80f
Abb. 1:
Formulierungsempfehlungen für
Negativverhalten
Zeugnisformulierung
Bedeutung
„Durch seine Geselligkeit trug er zur
Verbesserung des Betriebsklimas bei.“
Er neigt zu übertriebenem Alkohol­
genuss.
„Er machte häufig Vorschläge zu
Arbeitserleichterungen.“
Er war ein fauler und bequemer
Arbeitnehmer, dem es an ausrei­
chendem Einsatz mangelte.
1...,27,28,29,30,31,32,33,34,35,36 38,39,40,41,42,43,44,45,46,47,...62
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