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          PERSONALquarterly  01/18
        
        
          
            NEUE FORSCHUNG
          
        
        
          _ZEUGNISBEURTEILUNG
        
        
          A
        
        
          uf Basis kritischer Analysen und empirischer Daten
        
        
          kommen wir zu dem Schluss, dass Arbeitszeugnis-
        
        
          se in ihrer derzeitigen Form für die Personalaus-
        
        
          wahl nur höchst eingeschränkten Wert haben. Doch
        
        
          schauen wir zunächst auf die rechtlichen Grundlagen: § 109
        
        
          Abs. 1 Gewerbeordnung (GewO) gibt jedem abhängig Beschäf-
        
        
          tigten einen Rechtsanspruch auf ein schriftliches Arbeitszeug-
        
        
          nis zum Beschäftigungsende. Es muss mindestens „Angaben zu
        
        
          Art und Dauer der Tätigkeit“ beinhalten (= einfaches Zeugnis)
        
        
          und sich auf Verlangen des Arbeitnehmers auch auf „Leistung
        
        
          und Verhalten im Arbeitsverhältnis“ erstrecken (= qualifiziertes
        
        
          Zeugnis). Ein ähnlich formulierter Zeugnisanspruch existiert
        
        
          für Auszubildende und Beamte. Bemerkenswert ist mit Blick auf
        
        
          die Zeugnispraxis § 109 Abs. 2 GewO: „Das Zeugnis muss klar
        
        
          und verständlich formuliert sein. Es darf keine Merkmale oder
        
        
          Formulierungen enthalten, die den Zweck haben, eine andere
        
        
          als aus der äußeren Form oder aus dem Wortlaut ersichtliche
        
        
          Aussage über den Arbeitnehmer zu treffen.“
        
        
          Arbeitszeugnisse sind die einzigen individuellen Doku-
        
        
          mente in einer Bewerbungsunterlage, die nicht vom Bewerber
        
        
          selbst angefertigt werden. Sie können damit zur Überprüfung
        
        
          der Angaben im Lebenslauf dienen. Zudem liefern sie eine
        
        
          Fremdeinschätzung durch einen Dritten, die bei der Personal-
        
        
          auswahl mit eigenen Eindrücken abgeglichen werden kann
        
        
          (vgl. Nasemann, 2005, S. 121ff.). Diese Vorteile gelten aber nur,
        
        
          wenn die Zeugnisse den Anforderungen von § 109 Abs. 2 GewO
        
        
          entsprechen. Hier ergeben sich mit Blick auf die Zeugnispraxis
        
        
          etliche Irritationen (näher Watzka, 2013, S. 18ff.; Grau/Watzka,
        
        
          2016, S. 23ff.):
        
        
          Vor dem Hintergrund von § 109 Abs. 2 GewO können codier-
        
        
          te Formulierungen, positive Formulierungen eines negativen
        
        
          Leistungsverhaltens und die Ausblendung negativer Verhal-
        
        
          tensfacetten („beredtes Schweigen“) nur als Gesetzesverstoß
        
        
          bezeichnet werden. Beschreibt man z.B. das Sozialverhalten
        
        
          einer Mitarbeiterin mit den Worten „Wir können ihr nur bestä-
        
        
          tigen, dass sich Besucher und Anrufer immer wieder zufrieden
        
        
          über sie geäußert haben“ und möchte ihr damit „mangelhaftes
        
        
          Sozialverhalten“ bescheinigen (vgl. Weuster/Scheer, 2015, S.
        
        
          362), dann ist das ein klarer Widerspruch zur Gesetzesnorm.
        
        
          Die Ratgeberliteratur ist voll von solchen Empfehlungen (vgl.
        
        
          Quo vadis Arbeitszeugnis? Gibt es eine
        
        
          einheitliche Zeugnissprache?
        
        
          Von
        
        
          
            Steffi Grau
          
        
        
          und
        
        
          
            Prof. Dr. Klaus Watzka
          
        
        
          (Ernst-Abbe-Hochschule Jena)
        
        
          Huesmann, 2008, S. 135ff.). Ist ein Vorgehen rational, bei der
        
        
          der Schreiber etwas versteckt, das der Leser dann mühsam
        
        
          enttarnen soll?
        
        
          Die vermeintliche Rechtfertigung dieser Praxis findet sich in
        
        
          einem BGH-Urteil  (VI ZR 221/62; Nov. 1963), nach dem Zeug-
        
        
          nisse den Prinzipien der „Wahrheit“ und des „Wohlwollens“
        
        
          (Fürsorgepflicht) entsprechen müssen. Der BGH hat dabei
        
        
          eindeutig die Priorität auf die „Wahrheit“ gesetzt. In Ratgeber-
        
        
          literatur und Praxis verkürzt sich das Urteil aber oft auf die
        
        
          Ansicht, dass Zeugnisse keine negativen Aussagen enthalten
        
        
          dürfen. Zudem scheinen Bedenken wegen Rechtsstreitigkeiten
        
        
          die Zeugnispraxis zu dominieren. Dazu passt der empirische
        
        
          Befund, dass sich der Notenschnitt von Arbeitszeugnissen von
        
        
          2,4 (1994) auf 1,9 (2011) nach oben entwickelt hat. Der An-
        
        
          teil der Notenstufen „vier“ und „fünf“ sank von 9,2% auf 1,9
        
        
          bis 3,3%. In den Studien wurden verbale Gesamtbewertungen
        
        
          in Notenstufen auf einer Fünferskala transferiert (vgl. Grau/
        
        
          Watzka, 2016, S. 26 und die zitierte Literatur). Zwar hält das
        
        
          Bundesarbeitsgericht (BAG) daran fest, dass die Notenstufe
        
        
          „drei“ den Durchschnitt repräsentiert (BAG 9 AZR 584/13 von
        
        
          2014), aber die Realität sieht längst anders aus. Welchen Nut-
        
        
          zen aber haben Zeugnisbewertungen für die Personalauswahl,
        
        
          wenn sie kaum noch differenzieren?
        
        
          Wer ist der „Kunde“ von Arbeitszeugnissen? Die Auflistung
        
        
          der ausgeübten Tätigkeiten hilft Mitarbeitern bei der Stellen-
        
        
          suche und personalsuchenden Unternehmen gleichermaßen.
        
        
          Schwieriger wird es bei der Leistungs- und Verhaltensbewer-
        
        
          tung. Sollen primär die Bedürfnisse des ausscheidenden Mit-
        
        
          arbeiters befriedigt werden, dann hätte der Zeugnisaussteller
        
        
          über sehr positive Zeugnisse Hilfe für eine schnelle Wiederbe-
        
        
          schäftigung zu leisten. Wird aber das personalsuchende Unter-
        
        
          nehmen als primärer Kunde gesehen, dann müssen Zeugnisse
        
        
          durch „wahre und klare“ Aussagen Selektionshilfe bieten. Es
        
        
          fehlt an Rollen- und Zielklarheit. Der Zeugnisleser weiß nicht,
        
        
          ob sich ein Zeugnisaussteller eher dem ausscheidenden Mitar-
        
        
          beiter oder dem einstellenden Unternehmen verpflichtet fühlt.
        
        
          Der Essay-Stil hat eigentlich das Potenzial für eine sehr dif-
        
        
          ferenzierte Beschreibung des (Leistungs-)Verhaltens von Mit-
        
        
          arbeitern. Warum aber sollte ein Zeugnisaussteller die Zeit
        
        
          in ein individualisiertes Zeugnis investieren? Der Mitarbeiter