PERSONALquarterly 1/2018 - page 36

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PERSONALquarterly 01/18
NEUE FORSCHUNG
_ZEUGNISBEURTEILUNG
A
uf Basis kritischer Analysen und empirischer Daten
kommen wir zu dem Schluss, dass Arbeitszeugnis-
se in ihrer derzeitigen Form für die Personalaus-
wahl nur höchst eingeschränkten Wert haben. Doch
schauen wir zunächst auf die rechtlichen Grundlagen: § 109
Abs. 1 Gewerbeordnung (GewO) gibt jedem abhängig Beschäf-
tigten einen Rechtsanspruch auf ein schriftliches Arbeitszeug-
nis zum Beschäftigungsende. Es muss mindestens „Angaben zu
Art und Dauer der Tätigkeit“ beinhalten (= einfaches Zeugnis)
und sich auf Verlangen des Arbeitnehmers auch auf „Leistung
und Verhalten im Arbeitsverhältnis“ erstrecken (= qualifiziertes
Zeugnis). Ein ähnlich formulierter Zeugnisanspruch existiert
für Auszubildende und Beamte. Bemerkenswert ist mit Blick auf
die Zeugnispraxis § 109 Abs. 2 GewO: „Das Zeugnis muss klar
und verständlich formuliert sein. Es darf keine Merkmale oder
Formulierungen enthalten, die den Zweck haben, eine andere
als aus der äußeren Form oder aus dem Wortlaut ersichtliche
Aussage über den Arbeitnehmer zu treffen.“
Arbeitszeugnisse sind die einzigen individuellen Doku-
mente in einer Bewerbungsunterlage, die nicht vom Bewerber
selbst angefertigt werden. Sie können damit zur Überprüfung
der Angaben im Lebenslauf dienen. Zudem liefern sie eine
Fremdeinschätzung durch einen Dritten, die bei der Personal-
auswahl mit eigenen Eindrücken abgeglichen werden kann
(vgl. Nasemann, 2005, S. 121ff.). Diese Vorteile gelten aber nur,
wenn die Zeugnisse den Anforderungen von § 109 Abs. 2 GewO
entsprechen. Hier ergeben sich mit Blick auf die Zeugnispraxis
etliche Irritationen (näher Watzka, 2013, S. 18ff.; Grau/Watzka,
2016, S. 23ff.):
Vor dem Hintergrund von § 109 Abs. 2 GewO können codier-
te Formulierungen, positive Formulierungen eines negativen
Leistungsverhaltens und die Ausblendung negativer Verhal-
tensfacetten („beredtes Schweigen“) nur als Gesetzesverstoß
bezeichnet werden. Beschreibt man z.B. das Sozialverhalten
einer Mitarbeiterin mit den Worten „Wir können ihr nur bestä-
tigen, dass sich Besucher und Anrufer immer wieder zufrieden
über sie geäußert haben“ und möchte ihr damit „mangelhaftes
Sozialverhalten“ bescheinigen (vgl. Weuster/Scheer, 2015, S.
362), dann ist das ein klarer Widerspruch zur Gesetzesnorm.
Die Ratgeberliteratur ist voll von solchen Empfehlungen (vgl.
Quo vadis Arbeitszeugnis? Gibt es eine
einheitliche Zeugnissprache?
Von
Steffi Grau
und
Prof. Dr. Klaus Watzka
(Ernst-Abbe-Hochschule Jena)
Huesmann, 2008, S. 135ff.). Ist ein Vorgehen rational, bei der
der Schreiber etwas versteckt, das der Leser dann mühsam
enttarnen soll?
Die vermeintliche Rechtfertigung dieser Praxis findet sich in
einem BGH-Urteil (VI ZR 221/62; Nov. 1963), nach dem Zeug-
nisse den Prinzipien der „Wahrheit“ und des „Wohlwollens“
(Fürsorgepflicht) entsprechen müssen. Der BGH hat dabei
eindeutig die Priorität auf die „Wahrheit“ gesetzt. In Ratgeber-
literatur und Praxis verkürzt sich das Urteil aber oft auf die
Ansicht, dass Zeugnisse keine negativen Aussagen enthalten
dürfen. Zudem scheinen Bedenken wegen Rechtsstreitigkeiten
die Zeugnispraxis zu dominieren. Dazu passt der empirische
Befund, dass sich der Notenschnitt von Arbeitszeugnissen von
2,4 (1994) auf 1,9 (2011) nach oben entwickelt hat. Der An-
teil der Notenstufen „vier“ und „fünf“ sank von 9,2% auf 1,9
bis 3,3%. In den Studien wurden verbale Gesamtbewertungen
in Notenstufen auf einer Fünferskala transferiert (vgl. Grau/
Watzka, 2016, S. 26 und die zitierte Literatur). Zwar hält das
Bundesarbeitsgericht (BAG) daran fest, dass die Notenstufe
„drei“ den Durchschnitt repräsentiert (BAG 9 AZR 584/13 von
2014), aber die Realität sieht längst anders aus. Welchen Nut-
zen aber haben Zeugnisbewertungen für die Personalauswahl,
wenn sie kaum noch differenzieren?
Wer ist der „Kunde“ von Arbeitszeugnissen? Die Auflistung
der ausgeübten Tätigkeiten hilft Mitarbeitern bei der Stellen-
suche und personalsuchenden Unternehmen gleichermaßen.
Schwieriger wird es bei der Leistungs- und Verhaltensbewer-
tung. Sollen primär die Bedürfnisse des ausscheidenden Mit-
arbeiters befriedigt werden, dann hätte der Zeugnisaussteller
über sehr positive Zeugnisse Hilfe für eine schnelle Wiederbe-
schäftigung zu leisten. Wird aber das personalsuchende Unter-
nehmen als primärer Kunde gesehen, dann müssen Zeugnisse
durch „wahre und klare“ Aussagen Selektionshilfe bieten. Es
fehlt an Rollen- und Zielklarheit. Der Zeugnisleser weiß nicht,
ob sich ein Zeugnisaussteller eher dem ausscheidenden Mitar-
beiter oder dem einstellenden Unternehmen verpflichtet fühlt.
Der Essay-Stil hat eigentlich das Potenzial für eine sehr dif-
ferenzierte Beschreibung des (Leistungs-)Verhaltens von Mit-
arbeitern. Warum aber sollte ein Zeugnisaussteller die Zeit
in ein individualisiertes Zeugnis investieren? Der Mitarbeiter
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