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INVESTMENT & ENTWICKLUNG
I
KOLUMNE
KRISEN UND VISIONEN
Indemwir all diese Überlappungen, Über-
lagerungen und Durchdringungen wahrnehmen, uns auf sie
einlassen, sie aushalten, riskieren wir, Gewissheit und Sicherheit
im Leben und bei unserer Arbeit zu verlieren. Strategien, die zu
puristischen und minimalistischen Lösungen führen, scheinen
in ihrer Sehnsucht nach Harmonie und Einfachheit zu viel aus-
zuschließen. Sie vermeiden, ja verdrängen diese Superferenz der
Realität. Doch je mehr Regentropfen auf die glatte Wasserfläche
fallen, desto reicher werden die Formen. Neues löst eben noch
Neues ab: Wir brauchen Kreativität und Innovation.
Schonmit demBeginn der Arbeit an einemBauvorhaben gilt
es, aus einemMeer vonMöglichkeiten die entscheidenden zu fin-
den. Städtebau, Grundstückslage, Grundstücksgröße, Himmels-
richtungen, Blickbeziehungen, Erschließung, Raumprogramm,
Statik, Bauphysik, Haustechnik, Brandschutz und so vieles mehr
konkurrieren und müssen auf ihre sozialen, ökonomischen und
ökologischen Implikationen geprüft werden. Bei superferenten
Gesellschaften, Unternehmen oder Bauvorhaben liegt über den
Funktionen und Formen auch immer eine Idee, ein Konzept oder
eine Vision von dem, wie es sein soll.
Superferente Strategien sind dadurch auch immer Eingriff
und Störung. Sie blickenmitWohlwollen auf dieWelt, haben aber
auch Freude am Anderen, Mut zum Verbessern und Neugierde
auf das, was kommt. Die Naturgeschichte ist eine Aneinander-
reihung von Störungen. Störungen als selbstverständlichem Teil
des Systems. Auch der Mensch ist das Produkt von schier endlos
W
ährend ich bei meiner wöchentlichen Runde, vorbei an
der Säule mit dem goldenen Hirschen, in den Volkspark
Schöneberg biege, beginnt es wieder zu regnen. Schön sind
imVorbeilaufen die von denRegentropfen in Bewegung gesetzten
Wellenringe auf den Pfützen. Wo die Wellenringe aufeinander-
treffen, sind ihre Überlagerungen gut zu sehen. Schnell wachsen
die Pfützen. Ich muss im Laufen schon über die ersten springen.
Nach etwa zwei Kilometern schüttet der Regen vom Himmel.
DerWolkenbruch weicht dieWege auf. Das Platschen scheint
mit der Harmonie der ersten Wellenringe nichts mehr gemein
zu haben. Auf dem Wasser lösen neue Formen eben noch neue
Formen ab. Nass komme ich zuhause an. Und habe etwas kapiert.
PARADIGMENWECHSEL
Mir wird klar, dass die Ringe und das Plat-
schen auf der Wasseroberfläche ein eindrucksvolles Bild für den
Paradigmenwechsel sind, denwir gerade erleben: Multidimensio-
nalität statt Denken inOberflächen. Manchmal merkenwir sogar
in unserem täglichen Rennen, Raufen und Rudern, wie unsere
Begegnungen immer widersprüchlicher werden und sich das,
was wir erleben, zu immer differenzierteren Gebilden wandelt.
Wir stecken in einemMonsun polymorpher Ansprüche und
spezifischen Wissens. Und wir spüren, wie – im ersten Moment
ohne Ordnung – mal dieses mit jenem sich mischt, mal dieses an
jenem sich stößt. Manche nennen das Interferenz. Die Steigerung
der Erfahrung und Erkenntnis von Interferenz erkläre ichmir mit
einem anderen, neuen Begriff: Superferenz.
Superferenz
Foto: Dirk Weiß