personalmagazin 10/2015 - page 22

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TITEL
_SUCHT AM ARBEITSPLATZ
personalmagazin 10/15
ressenabwägung vorzunehmen ist. Dabei
kann berücksichtigt werden, ob und in-
wieweit den Arbeitgeber einMitverschul-
den trifft, etwa weil der Vorgesetzte trotz
Anhaltspunkten nicht eingeschritten ist.
Steht das Verhalten des Mitarbeiters
dagegen im Zusammenhang mit einer
Sucht, muss dies nach Auffassung der
Rechtsprechung ganz anders beurteilt
werden. Der Mitarbeiter begeht in die-
sem Fall die Pflichtverletzungen nicht
schuldhaft, daher gelten die strengeren
Anforderungen einer krankheitsbe-
dingten Kündigung. Dies bedeutet: Es ist
zum einen zusätzlich zu prüfen, ob eine
Versetzung auf einen anderen Arbeits-
platz geeignet ist, den störungsfreien
Ablauf des Arbeitsverhältnisses wieder-
herzustellen (etwa durch die Versetzung
eines Piloten in den Innendienst). Zum
anderen kommt es entscheidend darauf
an, ob der Mitarbeiter zum Zeitpunkt der
Kündigung bereit ist, eine Entziehungs-
kur oder Therapie durchzuführen. Lehnt
er das ab, darf davon ausgegangen wer-
den, dass er von seiner Sucht in abseh-
barer Zeit nicht geheilt wird. Ebenso ist
eine negative Prognose dann berechtigt,
wenn der Mitarbeiter nach abgeschlos-
sener Therapie rückfällig geworden ist.
Ist suchtmittelbedingte Geschäftsun-
fähigkeit ein Kündigungshindernis?
Langjähriger Suchtmittelkonsum bezie-
hungsweise dessen zerebrale und psy-
chische Folgen können zur Geschäfts-
unfähigkeit führen (§ 104 Abs. 2 BGB).
Arbeitgebern ist eine zuverlässige Ein-
schätzung so gut wie nie möglich, den-
noch kommt es darauf an: Kündigun-
gen werden nicht durch Zugang beim
Geschäftsunfähigen wirksam, sondern
müssen einem wirksam Bevollmächtig-
ten oder gesetzlichen Betreuer im Rah-
men dessen Aufgabenkreises zugehen
(§ 131 BGB). Dabei gilt nach Ansicht des
BAG der Zugang einer Kündigung nicht
als bewirkt, wenn sie dem rechtlichen
Betreuer lediglich faktisch zur Kenntnis
kommt oder irgendwie in seinen Herr-
schaftsbereich gelangt ist, sondern sie
muss konkret an ihn gerichtet oder zu-
mindest für ihn bestimmt gewesen sein.
Für den Arbeitgeber kann es daher in
der Kündigungssituation entscheidend
sein zu wissen, ob und gegebenenfalls
wer mit einschlägigem Aufgabenkreis
als rechtlicher Betreuer eines Mitarbei-
ters bestellt ist. Wegen eines konkret
nachgewiesenen Interesses werden
daher von den meisten Betreuungsge-
richten Auskünfte an Arbeitgeber er-
teilt. Rechtlich fällt diese Praxis jedoch
in einen Graubereich, ein Rechtsstreit
über eine solche Auskunft wird sich also
kaum lohnen.
Darf im Bewerbungsprozess nach
Suchterkrankungen gefragt werden?
Die Zulässigkeit von Fragen nach ei-
ner Suchtmittelabhängigkeit – etwa in
einem Bewerbungsfragebogen – hängt
von Aspekten der Verhältnismäßigkeit
im Einzelfall ab, § 32 Bundesdaten-
schutzgesetz (BDSG). Der Arbeitgeber
befindet sich daher in einer rechtlichen
Grauzone. Die folgenden Anhaltspunkte
können jedoch gegeben werden:
Zu weit oder ungezielt in die Privat-
sphäre eingreifende Fragen, wie zum
Beispiel nach den Trinkgewohnheiten des
Bewerbers, waren schon immer unzuläs-
sig. Fragen nach einer Abhängigkeitser-
krankung könnten inzwischen kritisch
sein, wenn man die Manifestationen
einer Suchterkrankung arbeitsrechtlich
und vor allem im Sinne des AGG als Be-
hinderung ansieht. Dafür spricht einiges.
Die arbeitsrechtlichen Konsequenzen
sind jedoch in keiner Weise geklärt und
insbesondere die häufig zitierte BAG-
Entscheidung vom 14. Januar 2004 (Az.
10 AZR 188/03) betraf nur die Ausle-
gung einer Heimzulagevorschrift nach
den AVR Caritas. In dem entschiedenen
Fall wurde eine Therapieeinrichtung für
Drogenabhängige unter Hinweis auf das
Sozialrecht einem „Heim der Behinder-
tenhilfe“ gleichgesetzt.
Arbeitgebern ist dennoch klar zu emp-
fehlen, im Umgang mit Suchtproblemen
und -prävention vorsorglich auch stets
Gesichtspunkte des AGG im Blick zu be-
halten und Fragen im Zusammenhang
mit Suchtproblemen nur zu stellen, wenn
und soweit zwingende Anforderungen
dieskonkret rechtfertigen.
Dürfen Arbeitgeber eine ärztliche
Eignungsuntersuchung verlangen?
Eine ärztliche Eignungsuntersuchung
darf erst recht nur dann auf eine Abklä-
rung möglicher Alkohol-, Drogen- oder
Medikamentenabhängigkeit erstreckt
werden, wenn und soweit damit eine we-
sentliche und entscheidende berufliche
Anforderung in Frage steht. Für beide
Bereiche gilt daher: Stellt der Arbeitge-
ber eine AGG-widrige Frage oder macht
er die Einstellung von einer ärztlichen
Eignungsuntersuchung abhängig, ob-
wohl die genannten Voraussetzungen
nicht vorliegen, droht das Risiko einer
Entschädigung und Schadensersatzhaf-
tung gegenüber einem benachteiligten
Bewerber.
DR. ISABEL NAZARI
GOLPAYEGANI
ist Fachan-
wältin für Arbeits- und Sozial-
recht bei Maat Rechtsanwälte.
DR. RAIMUND LANGE
ist
Fachanwalt für Arbeitsrecht
bei Maat Rechtsanwälte in
München.
Arbeitgebern ist klar zu
empfehlen, im Umgang
mit Suchtproblemen
und -prävention vorsorg-
lich auch stets die Ge-
sichtspunkte des AGG
im Blick zu behalten.
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