PERSONALquarterly 3/2015 - page 42

PERSONALquarterly 03/15
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NEUE FORSCHUNG
_WORK-LIFE-BALANCE
Neben diesen zusammenfassenden Wahrnehmungen der
Work-Life-Balance und des Stressausmaßes wurden auch kon-
krete Fragen zu Einzelaspekten der Ausbildungssituation ge-
stellt, welche sich an das Modell der Gratifikationskrisen nach
Siegrist (1996 sowie Siegrist et. al. 2004) anlehnten.
Ausprägung von Gratifikationskrisen
Die Antworten der Studienteilnehmer auf die Fragebogenitems
zur Dimension „Verausgabung/Leistung“ (=Effort) zeigen, dass
ein nennenswerter Anteil der Jugendlichen einen gewissen
Druck verspürt. Die Auszubildenden im Handel bestätigen
hierbei besonders häufig, dass sie Zeitdruck empfinden (65%
vs. 37% der angehenden Industriekaufleute), und sie klagen
häufiger darüber, dass sie bei der Arbeit unterbrochen und
gestört werden (43% vs. 22%). Dagegen berichten sie seltener,
dass die Arbeit seit Ausbildungsbeginn immer mehr geworden
sei (53% vs. 62%). Die geschlechtsspezifischen Unterschiede
fallen dagegen sehr gering aus.
Bezüglich der erfahrenen Belohnungen (=Reward) zeigte
sich, dass die positiv formulierten Fragebogenitems mehr-
heitlich Zustimmung erfahren, wobei die angehenden Indus-
triekaufleute durchgängig bessere Bewertungen abgaben.
Die größte branchenspezifische Diskrepanz (mehr als zwölf
Prozentpunkte) zeigte sich bei der Frage, ob die Jugendlichen
vom „Ausbilder oder einer entsprechend wichtigen Person“
die verdiente Anerkennung erfahren. Bei der Frage, ob die
Ausbildungsvergütung angemessen sei, zeigte sich bei beiden
Gruppen besonders wenig Zustimmung.
Die negativ formulierten Fragebogenitems erfahren jeweils
nur von einer kleinen Minderheit (d. h. maximal von rund
einem Sechstel der Auszubildenden) Zustimmung. Hierbei
zeigte sich auch, dass die Auszubildenden im Einzelhandel die
späteren Aufstiegsmöglichkeiten etwas schlechter bewerten,
und sie erfahren oder erwarten häufiger eine Verschlechte-
rung ihrer Arbeitssituation; dagegen sehen die angehenden
Industriekaufleute ihre Übernahme häufiger als gefährdet an.
Eine geschlechtsspezifische Differenzierung zeigte auch in die-
sem Bereich kaum nennenswerte Unterschiede, allerdings fällt
das Urteil bezüglich der Ausbildungsvergütung bei den männ-
lichen Auszubildenden etwas schlechter aus (65% vs. 59%).
Aus dem Verhältnis zwischen „Verausgabung/Leistung“ (Ef-
fort) sowie „Belohnung“ (Reward) ergibt sich, ob im Sinne des
Modells eine Gratifikationskrise (Effort-Reward-Imbalance =
ERI) vorliegt. Hierfür werden beide Dimensionen in Relation
gesetzt und aufgrund der unterschiedlichen Anzahl an Items
um diesen Faktor korrigiert, wobei die Werte für negativ for-
mulierte Items entsprechend umcodiert werden. Von einer in-
dividuellen Gratifikationskrise ist schließlich die Rede, wenn
der ERI-Wert größer als 1,0 ausfällt, da hier erfahrene und er-
wartete berufliche Belohnungen nicht dem Ausmaß geleisteter
Verausgabung entsprechen (vgl. Peter 2002, S. 391).
In der vorliegenden Studie zeigte sich bei 106 Teilnehmern
(20% aller Befragten) eine Gratifikationskrise nach dem Mo-
dell von Siegrist. Bei den Auszubildenden im Handel war die-
ser Anteil höher als bei den angehenden Industriekaufleuten
(23,2% vs. 16,1%), außerdem zeigten sich bei den männlichen
Auszubildenden höhere Werte als bei den weiblichen Auszu-
bildenden (23,4% vs. 18,4%).
Zusammenhänge zwischen Gratifikationskrisen, Work-Life-
Balance und Stressempfinden
Betrachtet man die Aussagen zur wahrgenommenenWork-Life-
Balance vor demHintergrund der jeweiligen Ausprägung einer
Gratifikationskrise, so zeigt sich ein differenziertes Bild.
Fast die Hälfte der Auszubildenden ohne Gratifikationskri-
se hat nach eigener Einschätzung „häufig genug“ oder „im-
mer“ genügend Zeit für Privates, während nur ein Sechstel
dieser Jugendlichen „zu selten“ oder „nie“ angab. Bei den
Auszubildenden mit Anzeichen einer Gratifikationskrise sind
diese Werte nahezu exakt gespiegelt. Und auch bei den Ant-
worten auf die Frage zur Work-Life-Balance, welche explizit
nach einem „ausgewogenen Verhältnis“ zwischen der Ausbil-
dungs- und Privatsphäre fragte, zeigen sich dasselbe Muster
und nahezu identische Werte. Dies deutet darauf hin, dass
das „weiche Bauchgefühl“ einer Work-Life-Balance durchaus
substanziell unterfüttert zu sein scheint. Ebenso sprechen die
Befunde für eine Validität der globalen Fragebogenitems zur
Work-Life-Balance.
Ein negativer Zusammenhang zwischen der wahrgenom-
menen Work-Life-Balance und der Bewertung der Ausbil-
dungssituation im Sinne des Gratifikationskrisenmodells mag
erwartbar erscheinen, gleichwohl ist es bemerkenswert, dass
zwischen diesen Determinanten, die einerseits Einzelaspekte
der Ausbildungssituation beschreiben (analytischer Ansatz)
und andererseits auf einer globalen Bewertung der Gesamt-
situation basieren (summarischer Ansatz), so deutliche und
statistisch hoch signifikante Zusammenhänge (Korrelations-
koeffizient nach Spearman rs=-,45 bzw. rs=-,42) bestehen. Dies
spricht dafür, dass die globalen Wahrnehmungen der Jugend-
lichen durchaus glaubwürdig sind und trotz unvermeidbarer
Subjektivität mehr als bloße Stimmungen oder Launen zu sein
scheinen, schließlich ist die Validität des Gratifikationskrisen-
modells in anderen Kontexten umfassend dokumentiert (vgl.
bspw. Siegrist et. al. 2004). Die vorliegenden Befunde deuten
an, dass eine Übertragung auf diesen Bereich möglich ist.
Des Weiteren wurden auch die Angaben zum Stressemp-
finden (bezogen auf den Ausbildungsbetrieb und die Berufs-
schule) vor dem Hintergrund des Gratifikationskrisenmodells
bewertet. Hierbei zeigte sich nur im Hinblick auf den betrieb-
lichen Teil der Ausbildung ein (statistisch hoch signifikanter)
positiver Zusammenhang (rs=,42). Im Hinblick auf die Berufs-
schule wurde dagegen kein Zusammenhang deutlich.
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