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Biel:
Was folgt daraus?
Brösel:
Aus dem Zweck
„Gläubigerschutz“
wird das Ziel „Ermittlung eines eher vorsichti-
gen Unternehmenserfolges“ abgeleitet. Dieses
Ziel dominiert schließlich die Inhalte der Zah-
lenwerke: Die Aussagen der Bilanz und der
Gewinn- und Verlustrechnung sind durch das
Vorsichtsprinzip verzerrt.
Biel:
Wenn wir aber die Weiterentwicklung der
Rechnungsnormen betrachten, stimmt dann
dieses Bild noch?
Brösel:
Berechtigte Frage. Der Gesetzgeber
lässt, und dies macht es problematisch, auch
Interessen anderer Adressaten sowie die Ent-
wicklung der Rechnungslegungsnormen auf
europäischer und internationaler Ebene nicht
unberücksichtigt. Deshalb ergeben sich vor
allem aus den jüngsten Änderungen des HGB
Tendenzen,
die den Gläubigerschutz auf-
weichen und dabei die Informationsfunk-
tion stärken sollen.
Biel:
Wozu kann dies aus Ihrer Sicht führen?
Brösel:
Dies führt bzw. besser: führte bereits
zu zusätzlichen Verzerrungen. Die Rech-
nungslegungsvorschriften des HGB wurden
nicht „in einem Guss“ „im stillen Kämmerlein“
unter ausschließlicher Berücksichtigung the-
oretisch sinnvoller Aspekte entwickelt, son-
dern es wird „ab und zu“ an der einen oder
anderen „Stellschraube gedreht“.
Die im
HGB beachteten Jahresabschlusszwecke
stellen
somit vielmehr
einen politisch aus-
gehandelten Kompromiss dar
, und die
diesbezüglichen Regelungen sind historisch
gewachsen.
Biel:
Herr Prof. Dr. Brösel, lassen Sie uns bit-
te an dieser Stelle zuspitzen und HGB und
IFRS gegenüberstellen? Welches Bild bieten
Sie uns an?
Brösel:
Gerne. Wenn ich HGB und IFRS ver-
gleiche,
dann würde ich das HGB als farb-
lich harmonisch gestaltete „Patchwork-
decke“ sehen, während die IFRS durch ei-
nen welligen Flickenteppich in disharmo-
nischen Farben verkörpert werden könnten
– also nicht nur eine Gefahr für die Augen.
Doch bleiben wir „auf dem Teppich“: Auch
wenn das HGB ausschließlich auf den Gläubi-
gerschutz abzielen würde: Jahresabschlüsse
– egal nach welchen Rechnungslegungsnor-
men erstellt – können durch den Kaufmann
gestaltet werden.
Biel:
Also müssen wir noch auf Fragen der Ge-
staltung und der
Bilanzpolitik
zu sprechen
kommen.
Brösel:
Ja, denn mit dem Jahresabschluss
und dem Lagebericht verfolgen die Unterneh-
men bestimmte Ziele. Hieraus resultieren die
bilanzpolitischen Ziele. Um es in den üblichen
Gegensätzen darzustellen: Je nachdem, ob ich
die Darstellung meines Jahresabschlusses
verbessern oder verschlechtern möchte, wird
zwischen
progressiver und konservativer Bi-
lanzpolitik
unterschieden. Einem Unternehmen
stehen hierzu zahlreiche Instrumente zur Verfü-
gung. Dabei wird es möglichst jene Instrumente
wählen, die im Hinblick auf das bilanzpolitische
Ziel wirksam, aber zugleich für den Adressaten
möglichst nicht erkennbar sind.
Biel:
Die Unternehmen stoßen dabei an Gren-
zen? Können Sie bitte noch einmal auf unsere
„Grenzen der Zahlenwerke“
eingehen?
Brösel:
Bei der Betrachtung der Zahlenwerke
des Jahresabschlusses, der Bilanz und der
Gewinn- und Verlustrechnung, stößt man
recht schnell an zahlreiche
Grenzen der Ana-
lysier- bzw. Interpretierbarkeit.
Diese Gren-
zen betreffen die Adressaten. „Traue keiner
Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast.“
Dies gilt im Grunde für jedes Zahlenwerk. Egal
wie die Regeln ausgestaltet sind – es beste-
hen zahlreiche Beeinflussungsmöglichkeiten.
Wenn die Gesetze beachtet werden, dann soll-
te man natürlich nicht von Fälschung spre-
chen, aber der Grat ist schmal.
Die Gesetze
und die GoB stellen somit die Grenzen für
die Unternehmen dar.
Biel:
Was bedeutet dies für unser Thema „La-
gebericht“?
Brösel:
Dieser gibt keine Interpretationshilfen
zur Identifikation der Verzerrungen. Allerdings
beinhalten die Zahlenwerke des Jahresab-
schlusses aussagefähige grundlegende Infor-
mationen, z. B. Wie hoch sind Umsatz und
Gewinn des Unternehmens? In welcher Höhe
besteht eine Fremdfinanzierung? etc. Im An-
hang ist darüber hinaus eine Aufbereitung der
Zahlen enthalten. Ohne diese Informationen
könnte auch der Lagebericht nicht aufgestellt
werden.
Biel:
Und was soll nun der Lagebericht in die-
sem Zusammenhang leisten?
Brösel: Der Lagebericht soll nun
°
vor allem den Adressaten helfen, die Rah-
menbedingungen zu verstehen, die zur
Entwicklung des Zahlenwerkes geführt
haben.
°
Zudem soll dieser z. B. bei der Beantwor-
tung der Frage unterstützen, ob ähnlich
hohe Umsätze und Gewinne auch in späte-
ren Jahren erwartet werden können, z. B.
durch die Aussagen zur Forschung und Ent-
wicklung, zum Wettbewerbsumfeld sowie
zu den Chancen und Risiken.
Aus Kennzahlen und deren Trends allein ist das
„Warum“ nicht ersichtlich. So sollte etwa die
wirtschaftliche Entwicklung eines Unterneh-
mens nicht ohne eine Betrachtung des Mark-
tumfeldes erfolgen. Für den Adressaten des
Jahresabschlusses ist zur Beurteilung einer
Umsatzsteigerung einer Gesellschaft um 5%
z. B. von wesentlicher Bedeutung, ob die Ge-
samtwirtschaft oder die entsprechende Bran-
che im Berichtsjahr stagnierte oder vielleicht
sogar um 10% stieg.
Hier hilft der Lagebericht. Die dabei eingenom-
mene Sicht der Unternehmensleitung wird
zwar einerseits ebenfalls zu Verzerrungen füh-
ren. Andererseits sollte jedoch die Unterneh-
mensleitung die Lage und deren voraussicht-
liche Entwicklung besser beurteilen können als
die Adressaten – sonst sitzen dort die falschen
Personen.
Biel:
Interessantes Thema. Können Sie uns da-
her auch einen Praxisblick in die Bilanzpolitik
vermitteln?
Freichel:
Bezüglich des Aspektes der mögli-
chen Bilanzpolitik möchte ich ergänzen, dass
Interview zum Thema: Lagebericht – noch ein Bericht?