37
          
        
        
          Freichel:
        
        
          Auch ich bin der Meinung, dass der
        
        
          Lagebericht ausschließlich auf die Informati-
        
        
          onsvermittlung fokussiert ist. Sein Inhalt ist an
        
        
          den Informationsinteressen der Adressaten
        
        
          auszurichten. Die Informationen aus dem Jah-
        
        
          resabschluss alleine können diese Interessen
        
        
          also nicht befriedigen.
        
        
          Diese müssen durch
        
        
          weitere entscheidungsnützliche Informatio-
        
        
          nen ergänzt werden.
        
        
          Hierdurch wird die klas-
        
        
          sische „Finanzberichterstattung“ eines Unter-
        
        
          nehmens zum „Business-Reporting“ erweitert.
        
        
          Biel:
        
        
          Entfernen wir uns damit ein Stück vom
        
        
          Jahresabschluss?
        
        
          Freichel:
        
        
          Der Lagebericht kann somit ein Me-
        
        
          dium wertorientierter Berichterstattung sein,
        
        
          welches abgekoppelt von den Grundsätzen
        
        
          ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) ist.
        
        
          Biel:
        
        
          Viele unserer Leserinnen und Leser sind in
        
        
          der Unternehmenspraxis tätig. Daher die Bitte,
        
        
          die Praxis des Lageberichts noch etwas zu ver-
        
        
          tiefen.
        
        
          Freichel:
        
        
          Die Schwerpunkte in der Praxis
        
        
          liegen im Prognose-, Chancen- sowie Ri-
        
        
          sikobericht.
        
        
          In den letzten Jahren wurde der
        
        
          Prognosezeitraum mehrfach geändert. Dies
        
        
          ist auch auf die zum Teil unkalkulierbaren
        
        
          Wirkungen der Finanzkrisen auf die Lage der
        
        
          Unternehmen zurückzuführen. In solchen Zei-
        
        
          ten tun sich die Unternehmen mit entspre-
        
        
          chenden Prognosen schwer. Der Prognose-
        
        
          zeitraum schwankte zwischen einem und
        
        
          zwei Jahren. Derzeit gilt der einjährige Prog-
        
        
          nosezeitraum. Dies soll die Prognosegenau-
        
        
          igkeit erhöhen.
        
        
          Biel:
        
        
          Ist der Lagebericht dann ein „Hoffnungs-
        
        
          träger“ der Geschäftsleitung?
        
        
          Freichel:
        
        
          Die bereitgestellten Informationen
        
        
          müssen schon
        
        
          objektivierbar
        
        
          sein und sollen
        
        
          nicht nur von dem Prinzip „Hoffnung“ getragen
        
        
          sein. Sofern eine erhebliche Unsicherheit be-
        
        
          steht, sollen wenigstens die Resultate unter-
        
        
          schiedlicher Szenarien miteinander verglichen
        
        
          werden.
        
        
          Biel:
        
        
          Wofür gilt der von Ihnen erwähnte Einjah-
        
        
          reszeitraum? Muss auch bedeutungsgemäß
        
        
          berichtet werden?
        
        
          Freichel:
        
        
          Der vorgenannte
        
        
          Einjahreszeitraum
        
        
          gilt im Übrigen ebenfalls für den Risiko- sowie
        
        
          Chancenbericht. Selbstverständlichkeiten, sog.
        
        
          generische Risiken bzw. Chancen, oder inhalts-
        
        
          leere Floskeln dürfen nicht berichtet werden.
        
        
          Im Sinne einer aussagefähigen Risikobericht-
        
        
          erstattung ist zu fordern, dass aus der Dar-
        
        
          stellung der Risiken
        
        
          deren Bedeutung her-
        
        
          vorgehen muss.
        
        
          Biel:
        
        
          Worüber ist leichter zu berichten, über
        
        
          Chancen oder über Risiken?
        
        
          Freichel:
        
        
          Es ist zu beobachten, dass sich
        
        
          die Praxis mit dem Chancenbericht schwer-
        
        
          tut.
        
        
          Dieser ist im Vergleich zum Risikobericht,
        
        
          was den Umfang angeht, oftmals stark unter-
        
        
          entwickelt. Ein weiteres Problem in der Praxis
        
        
          ist, dass zum Teil Chancen und Risiken im
        
        
          Sinne einer „Nettoberichterstattung“ saldiert
        
        
          werden. Dies ist nicht zulässig.
        
        
          Biel:
        
        
          Beschreibt der Lagebericht verbal nur
        
        
          das, was im Jahresabschluss ohnehin steht?
        
        
          Freichel:
        
        
          Da sprechen Sie ein Problem an. In
        
        
          der Tat muss darauf hingewiesen werden –
        
        
          und auch dies beachtet die Praxis häufig nicht
        
        
          adäquat –, dass nicht ein den tatsächlichen
        
        
          Verhältnissen entsprechendes Bild der Ver-
        
        
          mögens-, Finanz- und Ertragslage
        
        
          unter Be-
        
        
          achtung der GoB
        
        
          dargestellt werden darf,
        
        
          also letztendlich lediglich die Zahlen des
        
        
          Jahresabschlusses kommentiert werden,
        
        
          sondern die gesamte Lage des Unterneh-
        
        
          mens ohne die Einschränkung der GoB
        
        
          vermittelt werden muss.
        
        
          Biel:
        
        
          Können Sie uns diese Feststellung an
        
        
          einem kleinen Beispiel verdeutlichen?
        
        
          Freichel:
        
        
          Liegen z. B. erhebliche
        
        
          stille Re-
        
        
          serven
        
        
          in Vermögensgegenständen vor, ist
        
        
          zumindest verbal auf diese Tatsache hinzu-
        
        
          weisen. Hierfür sind betriebswirtschaftliche,
        
        
          volkswirtschaftliche, technische, rechtliche
        
        
          und soziale Aspekte zu berücksichtigen.
        
        
          Biel:
        
        
          Herr Freichel, können Sie unseren Lese-
        
        
          rinnen und Lesern vor dem Hintergrund ihrer
        
        
          Praxiserfahrungen noch einige ergänzende
        
        
          praktische Aspekte vermitteln?
        
        
          Freichel:
        
        
          Die Aussagen zum voraussichtlichen
        
        
          Geschäftsverlauf und zur erwarteten künftigen
        
        
          wirtschaftlichen Lage dürfen sich nicht auf eine
        
        
          Darstellung beschränken,
        
        
          sondern müssen
        
        
          darüber hinaus Zusammenhänge verbal
        
        
          klären
        
        
          . Das bedeutet, dass die voraussicht-
        
        
          liche Entwicklung sowohl der Vermögens- und
        
        
          der Ertrags- als auch der Finanzlage mit ihren
        
        
          wesentlichen Eckdaten zu erläutern ist. Dies
        
        
          bezieht sich nach Ansicht maßgeblicher
        
        
          Meinungen in den Kommentierungen bzw. im
        
        
          Berufsstand der Wirtschaftsprüfer insbeson-
        
        
          dere auf
        
        
          °
        
        
          die Beschäftigung und Belegschaft,
        
        
          °
        
        
          die Investitionen und ihre Finanzierung,
        
        
          °
        
        
          den Umsatz, die Aufwendungen und die
        
        
          Erträge sowie
        
        
          °
        
        
          das Geschäftsergebnis.
        
        
          Für den Normalfall mittelständischer Unterneh-
        
        
          men ist eine Reduzierung des Prognoseum-
        
        
          fangs auf die wesentlichen Teilaspekte wie
        
        
          °
        
        
          Umsatzentwicklung,
        
        
          °
        
        
          operative Ergebniseinschätzung bzw.
        
        
          °
        
        
          Hinweise zur erwarteten branchen-
        
        
          bezogenen konjunkturellen Entwicklung
        
        
          als Mindestumfang ausreichend, damit Über-
        
        
          frachtungen im Lagebericht vermieden werden.
        
        
          Biel:
        
        
          Ihre Antwort stößt einen anderen Aspekt
        
        
          an. Es gibt vielfältige Diskussionen zu den
        
        
          „Grenzen der Zahlen“
        
        
          . Der Lagebericht soll
        
        
          eine erläuternde verbale und integrierende
        
        
          Darstellung der Gesamtlage des Unterneh-
        
        
          mens wiedergeben. Was können wir aus die-
        
        
          ser Bedeutung und Notwendigkeit des Lage-
        
        
          berichts
        
        
          für die Aussagekraft von Bilanz
        
        
          und GuV ableiten?
        
        
          Was bedeutet dies für
        
        
          die Aussagefähigkeit von Zahlenwerken über-
        
        
          haupt?
        
        
          Brösel: Bereits Eugen Schmalenbach stellte
        
        
          fest, dass der Zweck die Rechnung be-
        
        
          stimmt. Dieter Schneider konkretisierte:
        
        
          „Der Rechnungszweck bestimmt über das
        
        
          Rechnungsziel den Rechnungsinhalt.“
        
        
          Ent-
        
        
          sprechendes gilt für den Jahresabschluss:
        
        
          Betrachtet man den Jahresabschluss nach
        
        
          HGB, dann sieht der Gesetzgeber die Gläubiger
        
        
          als besonders schutzwürdig an.
        
        
          
            CM Januar / Februar 2016