personalmagazin 2/2016 - page 62

62
RECHT
_RECHTSPRECHUNG
personalmagazin 02/16
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt und
Fachautor in Freiburg.
Gewerkschaften in Haftung zu nehmen,
selbst wenn es sich um einen rechtswid-
rigen Streik handelt.
Urteil vom 25.8.2015, 1 AZR 754/13
Scheinselbstständigkeit im Zirkus: Die
Grenzen der Revisionsinstanz
„Nageln Sie mal einen Pudding an die
Wand.“ Mit dieser flapsigen Bemerkung
hat der frühere Richter am BAG, Gerhard
Reinecke, die Schwierigkeit beschrie-
ben, rechtssicher zu entscheiden, ob
ein Vertragsverhältnis mit einem freien
Mitarbeiter durchgeht oder als Arbeits-
verhältnis zu werten ist. Eine gesetzliche
Definition gibt es nicht, sodass auch hier
das BAG einspringen muss. So auch in
einem Urteil aus dem August 2015, in
dem Zirkusartisten den Status als frei-
er Mitarbeiter erhalten haben. Wer jetzt
denkt, damit sei für eine rechtssichere
Beurteilung ein brauchbarer Pflock ein-
geschlagen worden, der wird allerdings
enttäuscht, denn eine wirkliche Hilfe für
die Praxis ist das Zirkusurteil nicht. Böse
Zungen behaupten, es sei nur auf die für
Grundsatzentscheidungen vorgesehene
amtliche Internetseite geraten, weil die
zugrunde liegende Beschäftigungsart
– Vertragsgegenstand war eine Auffüh-
rung am „Hochseil mit Todesradnum-
mer“ – so schaurig-schön klingt. In der
Sache betont das BAG, dass es immer auf
eine „Gesamtwürdigung aller Umstände
des Einzelfalls“ ankommt. Und gewürdigt
werden Sachverhalte bekanntlich gar
nicht vom BAG, da dieses als Revisions-
instanz nur über Rechtsfragen entschei-
det. Insoweit hat das BAG hier also keine
Grundsatzentscheidung gefällt, sondern
nur Fehler der Vorinstanz bei der Tatsa-
chenermittlung moniert. Auch nach der
Zirkus-Entscheidung bleibt es also beim
Gleichnis vom „Puddingnageln“.
Urteil vom 11.8.2015, 9 AZR 98/14
Unbestimmte Rechtsbegriffe: Auch
hierfür ist das BAG zuständig
Mitarbeitern, die in der Nacht arbeiten,
muss ein angemessener Nachtarbeits-
zuschlag oder eine angemessene An-
zahl bezahlter Feiertage gewährt wer-
den. So steht es seit Jahr und Tag in §
6 Abs. 5 des Arbeitszeitgesetzes. Was
aber verbirgt sich hinter dem Begriff
„Angemessenheit“? Seit dem Urteil aus
dem Dezember 2015 ist nun klar: Regel-
mäßig ist ein Zuschlag in Höhe von 25
Prozent angemessen, bei dauerhafter
Nachtarbeit beläuft er sich regelmäßig
auf 30 Prozent. Nur schade, dass das
BAG mit dem Wörtchen „regelmäßig“,
selbst wieder zu einem unbestimmten
Rechtsbegrifff greift. Juristen aber wis-
sen: „Regelmäßig“ bedeutet, dass es
auch Ausnahmen nach oben oder unten
geben kann. Näheres dazu vielleicht im
nächsten Jahresbericht aus Erfurt.
Urteil vom 9.12.2015, 10 AZR 423/14
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg macht dem Bundesar-
beitsgericht das Leben schwer. Jetzt drehen die Richter des BAG den Spieß um und
schütten vor schwierigen Entscheidungen die Luxemburger Kollegen mit Arbeit zu.
Besonders bei Problemen des Betriebsübergangs und des Diskriminierungsrechts wer-
den die BAG-Richter immer wieder von abweichenden Rechtsansichten ihrer Luxembur-
ger Kollegen überrascht und müssen frustriert feststellen, wieder einmal ein Urteil „für
den Papierkorb“ gefällt zu haben. Um dieser Gefahr zu begegnen, greifen die Bundes-
richter vermehrt zur sogenannten EuGH-Vorlage. Dadurch zwingen sie den EuGH dazu,
vorab Farbe zu bekennen.
Vorlageverfahren zum Betriebsübergang
Penibel haben die BAG-Richter bei dieser Vorlage das Problem einer tariflichen dynami-
schen Bezugnahmeklausel auf den Punkt gebracht. Sie wollen vom EuGH wissen, ob der
Erwerber eines Betriebs auch dann auf Dauer an das Tarifversprechen des Veräußerers
gebunden ist, wenn das nationale Recht auch einseitige Anpassungsmöglickeiten für
den Erwerber vorsieht. An dieser Frage wird der EuGH zu knabbern haben, denn die
Erfurter Richter schließen für den Fall, dass es sich die Luxemburger Kollegen zu leicht
machen, an die Ausgangsfrage eine ganze Reihe von weiteren Fragen an. So wird
sich der EuGH mit einer 15-seitigen Begründung, die von Spezialfragen nur so strotzt,
detailliert auseinandersetzen müssen.
Vorlagebeschluss vom 17.6.2015, 4 AZR 61/14
Vorlageverfahren betreffend AGG-Hopping
Das BAG beabsichtigt, den sogenannten „AGG-Hoppern“ das Handwerk zu legen. Es
möchte Stellenbewerbern einen Anspruch auf Entschädigungsansprüche dann ver-
wehren, wenn feststeht, dass diese gar nicht den „Zugang zur Beschäftigung oder zu
abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Auge haben, sondern nur den formalen Status eines
„Bewerbers“ wollen. Mit dieser Differenzierung konfrontiert das BAG jetzt den EuGH.
Auch hier erfolgte eine mehrstufige Anfrage. Sollten die Luxemburger Richter die vom
BAG vorgenommene Unterscheidung von Bewerbung und Zugang zur Beschäftigung
nicht teilen, müssen sie sich noch der Folgefrage stellen, nämlich ob „AGG-Hopping“
auch nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.
Vorlagebeschluss vom 18.6.2015, 8 AZR 848/13
Darüber muss Luxemburg entscheiden
EUROPARECHT
1...,52,53,54,55,56,57,58,59,60,61 63,64,65,66,67,68,69,70,71,72,...76
Powered by FlippingBook