PERSONALquarterly 03/18
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STATE OF THE ART
_UNTERNEHMENSFÜHRUNG
D
igitalisierung wird von der Mehrzahl der Unter-
nehmen heute sowohl als Bedrohung als auch als
Chance angesehen: Bedrohung, da neue, disrup-
tive digitale Geschäftsmodelle etablierte Anbieter
in ihrer Existenz gefährden, und Chance, da sich ungeahnte
Wachstumsoptionen ergeben, wenn digitale Innovationen im
eigenen Unternehmen entstehen. So zeigt das preisgekrönte
Imagevideo „A Journey to Silicon Valley“ den Vorstand von
Axel Springer vor dem Hintergrund der existenziellen Bedro-
hung des traditionellen Printgeschäfts auf der Suche nach
grundlegenden Innovationen und der korrespondierenden
Führungs- und Unternehmenskultur. Dieser Wandel gelingt
allerdings nur, wenn das bisherige Kerngeschäft weiterhin Ge-
winne abwirft: „Let's keep some decent German Spießertum“,
fasst Matthias Döpfner den notwendigen und Springer spezi-
fischen Spagat zwischen Tradition und Innovation zusammen.
Ambidextrie bezeichnet grundsätzlich die Fähigkeit, Stär-
ken im Kerngeschäft eines Unternehmens auszuschöpfen
und gleichzeitig die Anpassung an zukünftige Herausforde-
rungen durch Innovationen erfolgreich voranzutreiben. Als
strategischer Wettbewerbsvorteil in der sogenannten VUCA-
Welt erleben Führungs-, Kultur- und Organisationskonzepte,
die auf Ambidextrie abzielen, aktuell eine Hochkonjunktur im
Beratungsmarkt. Was auf den ersten Blick auf die gewählten
Begrifflichkeiten nach einer kurzlebigen Managementmode
aussieht, weist bei näherem Hinsehen auf eine lange Tradition
in der Organisations- und Managementforschung hin. Mindes
tens seit den 1990er Jahren und verstärkt seit 2004/2005 (Bir-
kinshaw/Gupta, 2013) ist die Frage virulent, wie Unternehmen
gleichzeitig anpassungsfähig bei Veränderungen sein können,
ohne ihr bisheriges Kerngeschäft aus den Augen zu verlieren.
Vor diesem Hintergrund steht für uns die Frage im Vorder-
grund: Führt Ambidextrie zu einem höheren Unternehmenser-
folg und welche Faktoren sind hierfür ausschlaggebend? Dabei
differenzieren wir insbesondere zwischen der personalen Ebe-
ne (individuelles Verhalten und Führungsstil) und der organi-
sationalen strukturellen Ebene. Auf der Organisationsebene
ist zudem interessant, ob Unternehmen vor dem Hintergrund
der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit der Zielsetzungen
und der Ressourcenbegrenzung statt einer Maximierung von
Kerngeschäftsausschöpfung und Innovationsverhalten eher ei-
nen balancierten Ansatz verfolgen sollten. Basis der folgenden
Darstellungen sind insbesondere die Metaanalysen von Pauli-
na Junni und Kollegen (2013) und Kathrin Rosing und Kollegen
(2011). Zunächst wollen wir jedoch die relevanten aber intuitiv
schwer zu fassenden Kernbegriffe Ambidextrie, Exploration
und Exploitation exakter bestimmen.
Was ist Ambidextrie? Definition und Dimensionen
Gemäß der Kontingenztheorie (z.B. Lawrence/Lorsch, 1967)
müssen sich Unternehmen an Veränderungen der Umwelt und
der Technologien anpassen können, um langfristig überlebens-
fähig zu bleiben. Konkret müssen einerseits radikale Innova-
tionen gefördert werden (Exploration), ohne andererseits die
Erfolge und Gewinne des traditionellen Kerngeschäfts durch
unzureichende inkrementelle Innovationen zu gefährden (Ex-
ploitation). Diese Differenzierung geht schon auf James March
(1991) zurück. Demnach unterscheiden sich die beiden Ansätze
in ihren Anforderungen z.B. an die Organisationsstruktur, die
Unternehmenskultur und die Führungskräfte grundlegend.
Erfolgreiche Exploration erfordert u.a. Risikobereitschaft, Au-
tonomie und Dezentralität, während Exploitation auf Effizienz,
Kontrolle und formalen Strukturen basiert. Ansätze, die Un-
ternehmen in die Lage versetzen, beide Anforderungen glei-
chermaßen zu erfüllen, werden unter dem Begriff Ambidextrie
oder auch Ambidexterität zusammengefasst: „[Ambidexterity
is] ... the ability to simultaneously pursue both incremental
and discontinuous innovation and change [that] results from
hosting multiple contradictory structures, processes, and
cultures within the same firm“ (Tushman/O'Reilly, 1996,
S. 24). Der Begriff geht auf die beiden lateinischen Wörter
ambo und dexter zurück, weshalb sich auch häufig die Über-
setzung Beidhändigkeit findet. Diese bildhafte Analogie dürfte
aber für die Managementpraxis eher irreführend sein. In ihrem
Überblicksartikel beklagen O’Reilly und Tushman (2013) die
unterschiedliche und generische Verwendung des Begriffs, die
zur Unschärfe des theoretischen und empirischen Konzepts
führe. Jüngst wurde der Versuch unternommen, sechs grundle-
gende verbindende Elemente nachzuweisen: „(1) simultaneity
versus punctuation, (2) trade-off and balance, (3) synchronicity
Von
Prof. Dr. Torsten Biemann
(Universität Mannheim) und
Prof. Dr. Heiko Weckmüller
(Hochschule Koblenz)
Organisationale Ambidextrie und
Unternehmenserfolg