PERSONALquarterly 03/18
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_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
D
ie Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wer
den von den Medien gerne als Fieberkurve unserer
Gesellschaft genutzt. Das Sinken oder der Anstieg der
Zahlen zum Einbruch oder zur Gewalt werden oft als
Beleg für eine gesunde oder kranke Entwicklung bewertet. Was
in der Aufregung übersehen wird: Die Kriminalstatistik ist zu
nächst einmal ein Arbeitsnachweis der Polizei. Wenn beispiels
weise die Fallzahlen zur Nutzung einer gefährlichen Droge bei
Jugendlichen deutlich ansteigen, ist das noch nicht der Beweis
für eine dramatische Entwicklung. Die Zunahme kann schlicht
die Folge davon sein, dass die Polizei ihre entsprechenden Kon
trollen in der Jugendszene drastisch erhöht hat.
Ein weiterer Aspekt, der die Aussagekraft der polizeilichen
Zahlen stark beeinflusst, ist die Anzeigebereitschaft der Op
fer. In einem Dorf, wo die Menschen in den eng gestrickten
sozialen Netzwerken ihre Konflikte häufig informell regeln,
fällt sie deutlich niedriger aus als in der Anonymität der Groß
stadt. Je fremder der Täter ist, umso wahrscheinlicher wird er
der Polizei gemeldet. Repräsentative Opferbefragungen von
Jugendlichen belegen das. Wird Max von Moritz tätlich an
gegriffen, liegt die Anzeigequote bei 13 Prozent. Handelt es
sich bei dem Täter aber um den türkischen Mehmet steigt die
Quote auf 27 Prozent. Eine Gewalttat zwischen Mehmet und
Mustafa wird der Polizei nur zu zehn Prozent bekannt. Wird
aber Mustafa vom russischen Igor angegriffen, steigt die Quote
auf 28 Prozent. Die Sichtbarkeit von Kriminalität ist also auch
vom Grad der gefühlten Fremdheit des Täters abhängig. Was
für Jugendliche gilt, gilt aber auch für Erwachsene: Der eigene
Ehemann wird seltener angezeigt als der fremde Sittenstrolch,
der Preuße vom Bayern eher als „unter Bayern“ und der eigene
Chef seltener als der entfernte Bekannte. Diese Beobachtung
relativiert nicht die Taten, aber den Wert der Statistiken. Der
starke Anstieg der Gewaltkriminalität, der 2016 als Folge der
Zuwanderung von Flüchtlingen registriert wurde, hängt al
so auch damit zusammen, dass deren Gewalttaten der Polizei
etwa doppelt so oft bekannt wurden wie die anderer Bevölke
rungsgruppen.
Trotz all dieser Einschränkungen ist die PKS ein wichtiges
Messinstrument zur Entwicklung der Kriminalität. Je schwerer
die Straftaten sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sie der Polizei bekannt und verlässlich aufgeklärt werden.
Bei Mord ermittelt die Polizei beispielsweise zu etwa 95 Pro
zent tatverdächtige Personen. Außerdem gibt es noch weitere
Informationsquellen zur Entwicklung der Kriminalität. Das
ist beispielsweise die Strafverfolgungsstatistik, mit der erfasst
wird, wie viele Verurteilungen es im Hinblick auf die verschie
denen Straftaten pro Jahr gibt. Ihre Daten belegen noch deut
licher als die PKS, dass die Gewaltkriminalität in Deutschland
in den letzten zehn Jahren deutlich abgenommen hat.
Ein entsprechender Trend zeigt sich im Hinblick auf die
schwere, körperliche Gewalt an Schulen. Wenn dort nämlich
nach einer Rauferei ein Arzt bemüht werden muss oder gar
ein Krankenhaustransport erforderlich wird, entsteht eine
Rechnung, die nicht die Krankenkasse, sondern der Deutsche
Versicherungsverband bezahlt. Er ermittelt mit großer Sorg
falt, wie viele schwere Gewaltvorfälle es pro 10.000 Schüler
und Jahr gibt. Daher wissen wir, dass die körperliche Gewalt
an Schulen, soweit eine ambulante Arztversorgung ausreichte,
seit 1997 um 44 Prozent abgenommen hat. Die Fälle mit kran
kenhausreif geschlagenen Schülern sind sogar um 62 Prozent
gesunken.
Hohe Aufklärungsquoten schrecken Täter ab
Beachtung verdient ferner, was sich im Vergleich der Bun
desländer zeigt, wenn man die polizeilichen Kriminalitätsda
ten vergleicht. Je besser die Polizei personell und technisch
ausgestattet ist, umso höher fällt für die Täter das Risiko aus,
dass sie erwischt werden. Hiervon hängt ganz wesentlich die
Abschreckungswirkung der Strafverfolgung ab. Im Vergleich
der Bundesländer zeigen sich beachtliche Unterschiede. Bay
ern und das benachbarte Baden-Württemberg schneiden hier
besonders gut ab. Hohe Aufklärungsquoten gehen einher
mit einer deutlich niedrigeren Kriminalitätsbelastung. Die
im Vergleich dazu weniger gut ausgestattete Polizei mancher
nördlicher Bundesländer ist in Versuchung geraten, zusätz
liche Planstellen dadurch zu erreichen, dass sie ihren Defi
nitionsspielraum, wie Straftaten erfasst werden, großzügig
auslegt. Gestützt auf erhöhte Deliktzahlen wollte man von der
Politik die dringend benötigten Planstellen bewilligt bekom
men. Auch wenn sie damit kaum Erfolg erreichte, hat nun die
Bedrohung durch den Terror bewirkt, dass sich die Personal
ausstattung der Polizei generell verbessert hat und sich die
Rahmenbedingungen der Erfassung von Kriminalität etwas
angleichen konnten.
Vorsicht beim Vergleich
Prof. Dr. Christian Pfeiffer,
Jurist, langjähriger Direktor des KFN – Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover