IMMOBILIENWIRTSCHAFT 06/2016 - page 37

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Danach blieben die Touristen aus und das Geschäft brach ein.
Die Armut der Bevölkerung steht dem immensen Reichtum ei-
niger Weniger gegenüber. König Mohammed VI. ist laut Forbes
einer der zehn reichstenMonarchen derWelt. Dazu nochmal das
Länderinformationsportal: „Seit er 1999 den Thron übernahm,
soll er sein privates Vermögen mindestens verfünffacht haben.
Mit geschätzten 2,5 Milliarden US-Dollar liegt er schon vor den
Herrschern aus Katar und Kuwait. Vom Königshaus dominierte
Holdings kontrollieren Rohstoffe, Banken, Versicherungen, die
Lebensmittel- und Bauindustrie.“
PARTIZIPATION
Marokko ist somit geprägt von extremen sozialen
Ungleichheiten und einem politischen System, das Partizipation
nur in sehr engen Grenzen zulässt. Amnesty International be-
richtet von Folter. Proteste werden gewaltsam aufgelöst. Es gibt
keine freie Presse, Minderheiten und Regierungskritiker werden
verfolgt und inhaftiert. „The Economist“ stuft in seinem Demo-
kratieindex Marokko als autoritäres Regime ein.
SEHNSUCHTSORT EUROPA
Während des Spaziergangs durch die
Souks ist immer wieder ein begeistertes Raunen zu vernehmen.
Auf ihren Smartphones verfolgen viele Händler die spanische
Primera División. Europa erscheint dabei als gut vermarkteter
Sehnsuchtsort. Am Ende des Abends gewinnt Barcelona acht zu
null.
Das Gegenteil zu der 800 Jahre altenMedina vonMarrakesch
ist eine völlig neue Stadt. Seit 2008 wird nach den Plänen von
Norman Foster in Abu Dhabi Masdar City gebaut. Deren Ziel
lautet: kein Kohlendioxid, kein Abfall, keine Autos. Doch die
ideale Stadt gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, wäre sie keine
Retortenstadt in der Wüste. Großartige Städte sind superferente
Städte: vielfältig, widersprüchlich, aufregend, inspirierend und
roh wie Marrakesch. Aber über die historischen Formen hinaus
gehört auch eine emanzipierte Zivilgesellschaft dazu, mit inno-
vativen Unternehmen, die Arbeit bieten, und mit neugierigen
Menschen, die mit Toleranz für Andersdenkende die Plätze auch
nutzen, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Von alldem sind
Masdar und Marrakesch noch entfernt.
DOCH ES GIBT AUCH HOFFNUNG
Während der arabischen Aufstän-
de 2011 zogen auch inMarokko wütende Demonstranten auf die
Straße. König Mohammed VI. ließ die Proteste teils niederschla-
gen, kamdenKritikern jedoch auch entgegen. So ließ er eine neue
Verfassung ausarbeiten.
Fatima Zahra Mansouri ist als erste Frau in Marokkos Ge-
schichte Bürgermeisterin einer Millionenstadt. Ein Ethikrat soll
die Vetternwirtschaft eindämmen. Seitdem sind die Einnahmen
von Marrakesch um 40 Prozent gestiegen. Sie investiert in Infra-
struktur und Stadtplanung. Durch beständigen Zuzug von Men-
schen aus noch ärmerenGegenden ist rund umdie Oasenstadt in
den letzten Jahrzehnten ein Gürtel von Slums entstanden. 34 von
ihnen werden jetzt in Wohngebiete mit städtischer Infrastruktur
umgewandelt. Die Bewohner erhalten Land, auf demsie sich neue
Häuser bauen können. Die Behörden sorgen für die in Marokko
erforderliche Infrastruktur: eineMoschee, einenMarkt, Brunnen
für Mensch und Tier, einen Hamam, Backöfen für Brot und öf-
fentliche Toiletten. Wenn die Gesellschaft in Ordnung ist, dann
werden auch die Städte in Ordnung sein. Stadt und Gesellschaft
sind miteinander verwoben.
STÄDTE SIND ABBILDER IHRER GESELLSCHAFTEN
Zurück in Berlin
staune ich über eine Stadt, die sich in den letzten drei Jahr-
zehnten gut entwickelt hat. Liegt es an der hiesigen Arbeits-
moral? An der Religion? Dem Klima? Den Politikern? Was hat
diese Entwicklung vomGuten zumBesseren und noch Besseren
ermöglicht?
Um es vorwegzunehmen: Es sind die hiesigen inklusiven
Institutionen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Dass
das so ist, lässt sich auch dort erkennen, wo genau diese Insti-
tutionen fehlen. Heute wissen wir so viel mehr über erfolgreiche
Städte und ihre Planung als noch in den 60er und 70er Jahren.
Auch wenn zunächst einfach ein Dach über demKopf gebraucht
wird – es geht darüber hinaus um Orte für die inklusive Gesell-
schaft. Um Plätze, die offen sind für unterschiedliche Gruppen
und Teilhabe ermöglichen. Es geht um eine gesellschaftliche Vi-
sion, um Orte und Räume für die durchmischte, pluralistische,
gerechte Gesellschaft.
Wenn die Gesellschaft in Ordnung ist, dann werden auch die Städte in
Ordnung sein. Stadt und Gesellschaft sind miteinander verwoben.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 zusammen mit Helge Schmidt das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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