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schaftslehre auf der Produktions- und Kosten-
theorie, was auch die starke Ausrichtung der
deutschen Wirtschaft auf industrielle Produkti-
on spiegelte. Die Produktions- und Kostentheo-
rie zählte ebenso zum Pflichtprogramm wie die
Kostenrechnungs-Konzepte von Hans-Georg
Plaut und Wolfgang Kilger. Fehlt diese Basis,
fehlen auch die Mitarbeiter, die eine komplexe
Kostenrechnung betreiben können.
Als dritter und letzter Grund werden kulturelle
Unterschiede zwischen dem anglophonen und
dem deutschsprachigen Bereich genannt. Wir
gelten als risikoscheu und wollen es immer
ganz genau wissen. Deshalb sind wir mit pau-
schaler Zurechnung von Kosten nicht zufrieden
und immer auf der Suche nach einer noch bes-
seren, noch genaueren Abbildung.
Diese Gründe für die Sonderstellung tragen
aktuell aber zunehmend weniger. Die Tren-
nung zwischen Finanzbuchhaltung und Kos-
tenrechnung verliert unter dem Stichwort der
Harmonisierung an Bedeutung. Laut den Er-
gebnissen des WHU Controller Panels gibt es
nur noch in gut der Hälfte der Unternehmen
kalkulatorische Kosten. Für den zweiten Grund
ist ebenfalls eine zurückgehende Relevanz zu
beobachten, weil sich die betriebswirtschaftli-
che Ausbildung an den Hochschulen verändert
hat. Heute findet man keine Veranstaltungen
mehr, die sich über Semester hinweg mit kom-
plizierten Kostenrechnungssystemen beschäf-
tigen. Leichter, in „kleineren Häppchen“ ver-
daubare Themen des Kostenmanagements
haben die Diskussion von Kostenrechnungs-
systemen zwar nicht ganz ersetzt, aber doch
deutlich zurückgedrängt. Letztlich verbleibt
nur das dritte, kulturelle Argument erhalten. Es
ist unverändert gültig. Damit liegt die Frage auf
der Hand, ob unsere Risikoscheu und unser
Perfektionsstreben ausreichen, um die Sonder-
stellung der „deutschen“ Kostenrechnung auf
Dauer zu erhalten.
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt
es derzeit nicht. Auch Großunternehmen, die
seit Jahrzehnten weltweit tätig sind und somit
Teil der globalen Wirtschaft, haben sich bis
heute ihre komplexe Kostenrechnung erhalten.
In vielen mittelständischen Unternehmen ist
das Thema noch gar nicht angekommen und
es hat bislang auch nicht oder nur am Rande
Eingang in die einschlägigen Lehrbücher ge-
funden. Lassen Sie mich – zugegebenermaßen
„mit dem ganz breiten Pinsel“ – eine Prognose
wagen und die Frage für Großunternehmen
und mittelständische Unternehmen unter-
schiedlich beantworten.
Großunternehmen sind einem sehr starken
Druck des Kapitalmarkts ausgesetzt. Sie müs-
sen dessen Spielregeln befolgen. Der Kapital-
markt ist stark anglo-amerikanisch geprägt und
versteht keine Steuerung mit Betriebsergebnis-
sen aus der Kostenrechnung. Die Kommunika-
tion basiert auf Cash-flows und EBIT-Zahlen.
Für differenzierte Betriebsergebnisse „deut-
scher Prägung“ fehlen dort sowohl die Systeme
in den Unternehmen als auch das Know-how,
sie zu betreiben, dies sowohl bei den Analysten
als auch bei den Accountants.
Druck vom Kapitalmarkt kennen mittelständi-
sche Unternehmen nur selten. Oft eigner-
oder familiengeführt, haben sie das Recht und
die Möglichkeit, eigene, individuelle Steue-
rungsgrößen zu benennen. Für Ergebnisse
aus der Kostenrechnung ist dort also grund-
sätzlich noch Platz. Trotzdem ist das kein Frei-
fahrtschein für ein komplexes Kostenrech-
nungssystem. Zum einen sterben erfahrene
Kostenrechner immer mehr aus und der
Nachwuchs hat häufig kein Faible für ausge-
feilte Kostenrechnungen. Zum anderen haben
komplexe Rechensysteme erhebliche Proble-
me mit Veränderungen der Geschäftsprozes-
se. Der Anpassungsaufwand steigt mit dem
Grad der Veränderung, und dies vermutlich
nicht nur linear. Das geschäftliche Umfeld
wird aber zunehmend turbulenter. Die Kosten-
rechnungs-Konzepte von Kilger, Plaut und
Riebel passten in eine Welt, in der der Hebel
für den Erfolg in der effizienten Nutzung vor-
handener Produktionskapazitäten lag. Heute
geht es stärker darum, die Kapazitäten richtig
zu dimensionieren, sie den Veränderungen in
den Märkten zeitnah anzupassen. Hierfür
kann die Kostenrechnung alter Prägung nur
wenig Hilfestellung leisten.
Zusammen mit dem Kapitalmarkt-Argument
sei also die Prognose gewagt, dass die „deut-
sche“ Kostenrechnung in Großunternehmen
ein Auslaufmodell ist. Sie wird in ihrer Komple-
xität reduziert werden, vielleicht sogar ihre
Rolle als Pendant zur Finanzbuchhaltung ver-
lieren und nicht mehr das universelle Informa-
tionsinstrument für alle wichtigen Steuerungs-
zwecke und -instrumente sein. Für mittelstän-
dische Unternehmen kann ich dagegen keine
klare Prognose abgeben. Die Entwicklung ist
ergebnisoffen. Kostenrechnung wurde im Mit-
telstand später eingeführt als in Großunter-
nehmen; der mit ihr erzielbare betriebswirt-
schaftliche Lerneffekt ist dort häufig noch
deutlich spürbar. Und die Kostenrechnung
steht im Mittelpunkt der betriebswirtschaftli-
chen Steuerung. Aber auch hier gilt: Ein
Selbstläufer ist die komplizierte „deutsche“
Lösung im Mittelstand nicht! Zumindest soll-
ten die Unternehmen auch dort kritisch auf
das Instrument schauen und sich fragen, ob
der realisierte Komplexitätsgrad wirklich ge-
braucht wird oder ob nicht auch eine verein-
fachte Form, besser nachvollziehbar für alle
und schneller zu ändern, ausreicht. Schauen
wir mal, welchen Weg die mittelständische
Praxis gehen wird!
Autor
Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen Weber
ist Direktor des Instituts für Management und Controlling (IMC) der
WHU – Otto Beisheim School of Management, Campus Vallendar,
Burgplatz 2, D-56179 Vallendar. Er ist zudem Vorsitzender des
Kuratoriums des Internationalen Controller Vereins (ICV).
E-Mail:
CM Mai / Juni 2019