CONTROLLER Magazin 2/2016 - page 83

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führt wurden (von Gremien, die nur sehr be-
dingt als demokratisch legitimiert angesehen
werden können, vgl. Perry & Nölke 2006). Der
scheinbare Vorteil dieser Standards stützt sich
auf Effizienzerwägungen, die sich in einem lee-
ren Raum ohne Effektivität, ohne Qualität ab-
spielen. Dabei kann schnell die Sensibilität da-
für verloren gehen, dass verschiedene Interes-
sengruppen unterschiedliche Anforderungen
haben, auch wenn die
Vorzüglichkeit dieser
abstrakten Sicht für Investoren
inzwischen
allgemein hervorgehoben wird.
Mathematische Modellwelten formen so Struk-
turen, die unser alltägliches Handeln prägen.
Durch die Übernahme von Formalismen zur Be-
wertung von Vermögensgegenständen hat sich
beispielsweise die Kapitaldefinition gewandelt
(vgl. Lazear 2000). Diese Definition ist dabei
weniger von der Sache her durchdacht, als eine
notwendige Folge volkswirtschaftlicher Theorie-
bildung. Bei der Formalisierung der Wirtschafts-
wissenschaft hat der US-amerikanische Öko-
nom Irving Fisher (1867-1947) auf Modelle der
klassischen Mechanik zurückgegriffen (vgl.
Brodbeck 2013, S. 33 f.). Das ermöglicht zwar
das Berechenbar-Machen wirtschaftlicher Pro-
zesse, die Übernahme dieser Struktur wirkt nun
jedoch zurück in den eigentlichen Gegenstands-
bereich (vgl. Mc Closkey & Klamer 1992). Häu-
fig wird dabei die Beziehung und Wirkung zwi-
schen der Abbildung eines sozialen Prozesses
und dem Prozess selbst vernachlässigt (Mac-
Kenzie 2008). In der Mechanik haben Modelle
keinen Einfluss auf die Wirklichkeit, die sie ab-
bilden. Die Entdeckung und präzise mathemati-
sche Beschreibung der Schwerkraft durch den
englischen Naturforscher Isaac Newton bei-
spielsweise nahm keinen Einfluss auf die Anzie-
hungskraft von Gegenständen. Anders sieht das
hingegen bei sozialen Prozessen, an denen
Menschen teilhaben, wie sie in der Wirtschaft
vorzufinden sind, aus.
Der Versuch einer prä-
zisen Darstellung wirtschaftlichen Verhal-
tens ist durch moderne Bilanzierungsstan-
dards zu einer Handlungsanweisung, einer
gesetzlichen Norm geworden.
Ebenso wie jeder Wissenschaft eine Werteba-
sis zugrunde liegt, die schon durch die Richtung
des Erkenntnisinteresses des Forschers be-
stimmt wird, so liegt auch jedem Bewertungs-
verfahren ein Maßstab, eine Richtung zugrun-
de. Dabei ist es wichtig, dass die getroffenen
Annahmen und vertretenen Werte des For-
schers bewusst reflektiert und hinterfragt wer-
den. Es ist wesentlich, sich bewusst zu sein,
dass jedes Sehen, jede Methode eine bestimm-
te Perspektive aufweist, die eine Geschichte
hat (vgl. Berthold 2015).
In Deutschland konnte sich der normative An-
satz und ein Bewusstsein um verschiedene Bi-
lanztheorien zwar länger behaupten als in den
USA. Zunehmend schlägt sich jedoch die Fo-
kussierung auf begehrte amerikanische Jour-
nals und deren „Norm der Normfreiheit“ in der
deutschen Forschungslandschaft nieder. An
immer mehr Hochschulen wird Rechnungsle-
gung als Werkzeug vermittelt ohne etwas über
ihre Entstehungsgeschichte und Gestaltungs-
prinzipien zu erfahren. Eine unkritische Wis-
sensweitergabe führt im schlimmsten Fall dazu,
dass die nächste Generation alles von ihren
Vorgängern übernimmt, außer deren Vorzüge.
Ein Mangel an kritischer Auseinanderset-
zung kann zur Unkenntnis von Stärken und
Schwächen des eigenen Werkzeugkastens
und zu einer blinden, unsachgemäßen An-
wendung führen.
Mit diesem Artikel möchten die Autoren also
dazu anregen, einen Moment zurückzutreten
und nicht beschreiben, was durch eine Pers-
pektive gesehen werden kann, sondern unter-
suchen, wie dadurch Wirklichkeit geschaffen
wird. Dafür lohnt einerseits ein Blick in die Ge-
schichte und andererseits in Diskurse, die in
dieser Reflexion geübt sind, wie beispielsweise
die soziologische Forschung des „organisierten
Rechnens“ oder auch die aktuellen Diskurse
der Accounting-Forschung.
Die historische Genese
der Buchführung
Die frühe Buchführung
als Erinnerungsgrundlage
Buchführung im Sinne einer systematischen Er-
fassung von Erträgen auf Steintafeln oder Le-
derschnüren ist wohl deutlich
älter als 5.000
Jahre
.
In Europa
finden sich
im Mittelalter
die ersten Bücher. Standards gab es dabei zu-
nächst nicht. Gemäß der „Kunst des Erinnerns“
wurde ein Buch über all das geführt, was dem
Geschäftsführer als merk-würdig erschien. Es
finden sich tagebuchähnliche Notizen, die expli-
zit an das lebens- und generationsübergreifen-
de Gedächtnis gebunden sind. Dabei geben die
Einträge kein eindeutiges Bild wieder, das von
jedem verstanden werden kann, sondern ver-
weisen auf persönliche Erinnerungen, um eine
Situation später wieder vergegenwärtigen zu
können. Die Orientierung ist stark an kirchliche
Feiertage und den Mondkalender gebunden.
Das Buchführen transformierte zu jener Zeit die
alte gedächtnisbasierte Erinnerungskunst, die
Memoria. Ihre Geschichten schreiben die Men-
schen aber noch nach ihren eigenen Kriterien
(vgl. Jeßling 2009, S. 257).
Die
Formalisierung und Standardisierung
im Modus der doppelten Buchführung entwi-
ckelte sich im
13. Jahrhundert.
Sie wurde zu-
nächst in Stadtstaaten, vor allem dort, wo die-
se sich bei Bankhäusern verschuldet hatten, für
alle Kaufleute zur Pflicht. Deshalb breitete sich
auch die doppelte Buchführung im Modus der
Banken aus, wenngleich sich vielerorts eine
einfache Buchführung als die einer Unterneh-
mung sachdienlichere Art erwiesen hatte (vgl.
Jäger 1868). Es ging dabei aber nicht darum zu
werten oder Handlungsbedarfe aufzuzeigen.
Die doppelte Buchführung diente vor allem
dazu, „die Verhältnismäßigkeit kaufmänni-
scher Praxis vor dem Hintergrund einer
gottgegebenen ewigen Ordnung der Dinge
zu demonstrieren [...].
An eine Steigerung
kaufmännischer Ökonomien ist nicht gedacht,
denn die Ordnung, die organisiertes Rechnen
symbolisiert, ist ja bereits perfekt.” (Vollmer
2004, S. 254.)
Die Buchführung der Moderne
als Handlungsgrundlage
Mit Übergang in die Moderne ändert sich die In-
terpretation der Buchführung, in welcher sich
seither keine „harmonische Ordnung“ mehr
ausdrückt, sondern die durch ihre Zahlen als
Handlungsgrundlage auf Potenziale und Defizi-
te hinweisen will. Seit Beginn des 19. Jahrhun-
derts wird damit aus der vergangenheitsorien-
tierten Registratur und Kontrolle von Transakti-
onen ein zukunftsweisendes Mittel zur Organi-
sationsgestaltung (vgl. Vollmer 2004, S. 456).
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