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Noch im vorindustriellen England beispielswei-
se bestand lediglich die Notwendigkeit, Zah-
lungsströme abzubilden, da Zwischenprodukte
vielerorts zu Marktpreisen gehandelt wurden.
Daran war also unmittelbar der Aufwand abzu-
lesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert werden in-
ternes Rechnungswesen mit dem Zweck der
Kontrolle und externes Rechnungswesen als
Rechnungslegung zum Zweck der Rechen-
schaft nicht getrennt, weil sich erst danach ein
„organisierter“ Kapitalmarkt entwickelte (vgl.
Schneider 2001). Erst das Auftreten von größe-
ren Betrieben machte die interne Verrechnung
fragwürdig und in England und den USA ent-
standen neue Methoden des internen Cost-,
bzw. Management-Accounting (vgl. Johnson &
Kaplan 1991). Gegen 1900 wird die Fremdka-
pitalperspektive immer wichtiger und unabhän-
gige Buchprüfer verlangen einheitliche Stan-
dards, die nicht mehr nach der Kostenstruktur
der jeweiligen Unternehmung bemessen sind.
Spätestens seit dem Aufkommen staatlicher
Normen bekommt das „Financial Accounting“
zunehmende Bedeutung, sodass Johnson und
Kaplan in den 90er Jahren feststellten,
dass
externe Buchführung seine Relevanz für
die Bewertung der Effizienz einer Unter-
nehmung nahezu komplett verloren hat
.
Wie der Wandel der Zielsetzung einer Unter-
nehmung im externen Rechnungswesen Aus-
druck findet, lässt sich anhand der historischen
Entwicklung der französischen Rechnungsle-
gung illustrieren (vgl. Chiapello 2009). Wäh-
rend das Rechnungswesen des 19. Jahrhun-
derts primär durch die Bindung der Unterneh-
mung an eine Person, d. h. zur zeitlich begrenz-
ten Güterproduktion, charakterisiert wurde und
es aus Sicht der Gläubiger daher sinnvoll war,
das Unternehmen in seinem aktuellen Wert am
Bilanzstichtag abzubilden, galt zu Beginn des
20. Jahrhunderts erstmals der Grundsatz der
Unternehmensfortführung. Unternehmen wur-
den behandelt, als hätten sie dauerhaft Be-
stand und verfolgten die Aufgabe, die
Interes-
sen ihrer Gläubiger
zu bedienen. Der Blick
richtete sich folglich auf die historische Ent-
wicklung und die zukünftige Beständigkeit des
Unternehmens.
Seit Anfang des 21. Jahrhun-
derts
ist nun eine dritte Phase angebrochen
(IFRS), in der sich das Unternehmenskonzept im
Kern
an den Interessen der Aktionäre
orien-
tiert. Dies führt zu einem Berechnungsmodell,
das den Fokus auf den aktuellen Wert des
Unternehmens am Markt bzw. die Unterneh-
menszukunft legt. Während Unternehmen in
der zweiten Phase noch als „Produktionsstätte“
verstanden wurden, werden sie nun gemäß der
Portfoliotheorie als eine Art „Warenkorb“ (Chia-
pello 2009, S. 133) begriffen, der von den
Finanzinvestoren scheinbar unabhängig von
realwirtschaftlichen Strukturen beliebig zusam-
mengesetzt werden kann.
Mit der historisch zunehmenden Bedeutung
von Zahlen als Handlungsorientierung und
-grundlage kann sich eine Referentialität von
Quantitäten auf sich selbst entwickeln, indem
Entscheidungen nicht mehr gedacht, sondern
gerechnet werden. In dieser vollzieht sich dann
eine Loslösung der ökonomischen Dimension
von allen anderen Lebenswelten. Durch die hie-
raus resultierende Trennung der persönlichen
Bedarfsbefriedigung vom abstrakten Gewinn-
ziel fördert die doppelte Buchführung so die
kapitalistische Ökonomie (vgl. Chiapello 2009).
In ihr bildet sich die kapitalistische Grundidee
einer kontinuierlichen Kapitalanhäufung ab (vgl.
Vormbusch 2007, S. 46 ff.).
Haltung und Handlung
in Buchführung
Im Spiegel der Geschichte haben sich verschie-
dene Facetten gezeigt, anhand derer Möglich-
keiten erkannt und gedanklich Abstand zur All-
tagspraxis genommen werden können. Schon
allein der Wandel des Spiegels, den uns eine Bi-
lanz gibt, zeigt, dass das generierte Bild nicht
verlässlich in dem Sinne ist, dass es ein eindeu-
tiges und objektives Bild des Unternehmens
zeigt. Vielmehr
verzerrt er die Realität
auf eine
ganz bestimmte Art und Weise, indem Aufmerk-
samkeit auf bestimmte Aspekte gelenkt und von
anderen abgelenkt wird. Blickt man nur in die-
sen „Zahlenspiegel“, so
bekommt man schnell
ein einseitiges Bild der Wirklichkeit
. Wird
man selbst nach einem solchen Bild evaluiert, ist
es oft karrierefördernd gemäß diesem Bild zu
handeln, selbst wenn es der Situation nach un-
angemessen scheint. Das eigene Ermessen und
Urteil von Menschen „vor Ort“ ist jedoch not-
wendig, um die Güte der erfassten Zahlen über-
haupt zu beurteilen, Zahlenerfassung sinnvoll
anzupassen und Eindrücke zu sammeln, die
schwer quantifizierbar sind.
Rechensysteme
können die gemeinsame Wahrnehmungsba-
sis einer Organisation erzeugen, indem die
Konzentration der Organisationsmitglieder
einzig auf dieser Sichtbarkeit ruht oder auf
diese gelenkt wird.
Ebenso ist es möglich,
dass Zahlen in Algorithmen unmittelbar, ohne
eine menschliche Entscheidung, Wirkung entfal-
ten und abhängig von der Performanz einer Ma-
trix Gehälter angepasst, Wertpapiere gekauft
oder Waren geordert werden. In der Soziologie
spricht man davon, dass organisiertes Rechnen
die Form von derivativen Zahlenspielen an-
nimmt. Das heißt, dass aus Daten automatisch
neue Daten generiert werden. In solchen Zu-
sammenhängen kann es dazu kommen, dass
die Rechenstruktur stärker die Rolle von Mitar-
beitern bestimmt als andersherum.
Die zuneh-
mende Orientierung an Zahlen führt einer-
Autoren
Philipp Hummel
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialorganik
an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft bei Prof.
Dr. Götz E. Rehn. Er erforscht die Wechselwirkung von Rechen-
instrumenten und kulturellen Werten im Unternehmen.
E-Mail:
Florian Rommel
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie an
der Cusanus Hochschule bei Frau Prof. Dr. Silja Graupe und en-
gagiert sich für einen Wandel zu mehr Pluralität in der Volks-
wirtschaftslehre. Er erforscht die Wirkung volkswirtschaft-
lichen Denkens auf andere Wissensgebiete und Institutionen.
E-Mail:
Buchführung als Spiegel der Wirklichkeit