CONTROLLER Magazin 2/2016 - page 22

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Denn Ängste können ihrerseits zu einem Si-
cherheitsrisiko werden, was sich an den Reak-
tionen auf die Terroranschläge auf das World
Trade Center und U.S.-Pentagon am 11. Sep-
tember 2001 beispielhaft zeigen lässt. Etwa
3.000 Menschen haben durch die Anschläge
ihr Leben verloren, darunter die 256 Passagie-
re der entführten Flugzeuge. Es folgte der so-
genannte Krieg gegen den Terror und eine Aus-
weitung staatlicher Überwachung, die bis heute
unsere Freiheit bedroht und deren volles Aus-
maß uns erst allmählich bewusst wird. Neben
direkten Todesfällen verursachten die Anschlä-
ge jedoch auch indirekte Todesfälle: Sie erzeug-
ten Angst, aus der heraus viele Reisende vom
Flugzeug aufs Auto umgestiegen sind – mit töd-
lichen Folgen: Da Autofahren in statistischer
Hinsicht viel gefährlicher ist als Fliegen, gab es
in den zwölf Monaten nach den Anschlägen un-
gefähr 1.600 Verkehrstote mehr als in den Vor-
jahren (Gaissmaier & Gigerenzer, 2012).
Ein Werkzeugkasten
für gute Entscheidungen
Dieses Beispiel illustriert eindrücklich, dass ein
mangelhafter Umgang mit Unsicherheit zu
Fehlentscheidungen führen kann
, mit drama-
tischen Auswirkungen bis hin zu vermeidbaren
Todesfällen. Was ist also zu tun? Sollten wir Ent-
scheidungen lieber von Menschen fernhalten
und in Expertengremien verlagern, die dann –
wohlmeinend paternalistisch – für uns die „rich-
tigen“ Entscheidungen treffen? Unter keinen Um-
ständen! Zum einen ist auf Expertenurteile kei-
nesfalls immer Verlass, was sich durch eklatante
Diskrepanzen zwischen den Vorhersagen durch
Politik, Wissenschaft, Finanzwelt oder Medizin
und der eingetretenen Wirklichkeit belegen lässt.
Darüber hinaus sind sich Experten oft auch nicht
einig oder teilen unsere persönlichen oder gesell-
schaftlichen Werte und Ziele nicht.
Nein, wir
müssen unsere Entscheidungen schon
selbst verantworten – und können das auch.
Um in beruflichen und privaten Kontexten gute
Entscheidungen zu treffen, müssen wir uns zu-
erst von dem Leibnizschen Traum verabschie-
den, dass es ein universelles Werkzeug für op-
timale Entscheidungen gebe.
Vielmehr benö-
tigen wir eine Einschätzung für die Art von
Unsicherheit, mit der wir konfrontiert sind,
sowie einen Werkzeugkasten mit einer
Vielfalt an jeweils passenden Entschei-
dungsstrategien.
Dieser darf ruhig so unter-
schiedliche Strategien wie Logik, statistisches
Denken und Bauchgefühl enthalten. Sind für
eine Entscheidung viele potenziell relevante Da-
ten verfügbar, reagieren wir (insbesondere als
professionelle Entscheider in betrieblichen Kon-
texten) gern mit dem „rationalen Reflex“, für ein
komplexes Problem auch eine komplexe Lö-
sung zu fordern. Aber genau wie eine akribi-
sche Analyse des physiologischen und psycho-
logischen Zustands jedes einzelnen Spielers ei-
ner Fussballmannschaft den Ausgang eines
Spiels generell nicht besser vorhersagen lässt,
als die spontane Eingebung eines Experten,
führt die Suche nach zusätzlichen Informatio-
nen zwar mit Sicherheit zu einer Verzögerung,
Veränderung und Verkomplizierung des Prob-
lems, aber nicht automatisch zu einer besseren
Lösung (Neth, 2014).
Statt reflexhaft nach mehr Daten und mehr
Analyse zu verlangen, sollten wir erst einmal
feststellen,
in welcher Art von Entschei-
dungssituation
wir uns befinden (vgl. Abbil-
dung 1). Hierbei müssen wir zunächst zwischen
Entscheidungen unter
Sicherheit
und Ent-
scheidungen unter
Unsicherheit
unterschei-
den. Herrscht
Sicherheit
, können wir die rich-
tige Lösung des Problems auf der Basis von
Fakten und den Mitteln der Logik berechnen. In
fast allen interessanten und praktisch relevan-
ten Fällen aber spielt ein gewisses Maß an
Un-
sicherheit
eine Rolle. Hier ist es wichtig, dass
wir unsichere Entscheidungssituationen noch
hinsichtlich der Art und des Ausmaßes an Unsi-
cherheit unterscheiden.
Unsicherheit ist nicht
immer gleich stark ausgeprägt
und lässt
sich als eine kontinuierliche Dimension denken,
an deren Polen wir zwischen
Risiko und Unge-
wissheit
unterscheiden. Sind alle möglichen
Ergebnisse einer Entscheidung und die Wahr-
scheinlichkeiten ihres Eintritts bekannt, liegt
eine Entscheidung
unter Risiko
vor. Hier loh-
nen sich der Einbezug vieler Daten, statisti-
sches Abwägen und komplexe Berechnungen
mittels mathematischer Modelle (Knight, 1921).
Am anderen Pol des Unsicherheits-Kontinuums
herrscht völlige
Ungewissheit
. Hier sind meist
weder alle verfügbaren Optionen noch die
Wahrscheinlichkeiten möglicher Ergebnisse be-
kannt. In solchen Situationen helfen präzise
Datenanalysen und statistische Berechnungen
prinzipiell nicht weiter; stattdessen verlangen
ungewisse Situationen nach intuitiven und ein-
fachen Entscheidungsregeln (Heuristiken), die
Informationen ignorieren. Im Folgenden be-
leuchten wir Entscheidungen unter Risiko und
unter Ungewissheit etwas genauer.
Entscheidungen unter Risiko
erfordern statistisches Denken
Entscheidungen unter Risiko lassen sich an
einer prototypischen Entscheidungssituation
illustrieren, die zumindest diejenigen unter un-
seren Lesern betrifft, die männlich und bereits
über 50 Jahre alt sind. Dann wird Ihnen unter
Umständen beim nächsten Besuch einer allge-
meinärztlichen oder einer urologischen Praxis
Die Intelligenz einfacher Entscheidungsregeln
Autoren
Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier
erforscht menschliches Entscheiden und Umgang mit Risiko
als Professor für Sozialpsychologie und Entscheidungsfor-
schung an der Universität Konstanz. Er wurde u. a. mit der Ot-
to-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft für herausra-
gende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet.
E-Mail:
Dr. Hansjörg Neth
erforscht Problemlöse- und Entscheidungsprozesse unter Risi-
ko und Ungewissheit. Nach Tätigkeiten in den UK und USA, so-
wie Stationen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfor-
schung und den Universitäten Göttingen und Freiburg, ist Dr.
Neth Akademischer Rat a.Z. der Universität Konstanz.
E-Mail:
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