CONTROLLER Magazin 2/2016 - page 12

10
lassen die meisten Controller auch die Finger
von dem vordergründig so weichen und schwer
fassbaren Thema, das auf den ersten Blick auch
wenig mit Controlling zu tun haben mag.
Anfangs lag der Fokus der Arbeit im Controlling
auf der Sicherstellung einer hinreichenden Kos-
ten-, Erlös- und Gewinntransparenz. Später
kam die systematische Verzahnung von Infor-
mationssystemen und Steuerungsprozessen
hinzu. Gute Controller fühlen sich in diesem
Aufgabenfeld wohl: Sie sind intime Kenner der
relevanten Prozesse im Unternehmen und gel-
ten als die Experten für Unternehmenssteue-
rung. In dem Maße, in dem diese Aufgaben in
immer mehr Unternehmen zumindest im
Grundsatz gelöst sind,
sollten sich Controller
aus der Komfortzone eines Hüters von
Transparenz und formalen Steuerungssys-
temen herausbewegen.
Sie müssen sich die
Frage gefallen lassen,
wo heute der eigentli-
che Engpass für ein rationales Manage-
ment liegt.
Allein in der weiteren Optimierung
von Informationssystemen und formalen Abläu-
fen? Oder vielleicht doch in der
Minimierung
kognitiver Verzerrungen und der Gestal-
tung der zwischenmenschlichen Interak-
tion in Entscheidungsprozessen?
Wir meinen, dass es an der Zeit ist, das schwieri-
ge Thema aus dem Controlling heraus anzugehen
und werden durch erste Beispiele hierin bestärkt:
Die RWE erhielt für ein entsprechendes Projekt
(vgl. Scherpereel et al. 2015 und Muhr 2015) so-
gar den Controllerpreis des Internationalen Con-
troller Vereins (ICV). Um kognitive Verzerrungen
zu vermeiden oder zumindest in ihrer Wirkung
zu reduzieren, bedarf es – wie im Folgenden
gezeigt – zum einen konkreter Techniken. Zum
anderen muss aber auch das Führungssystem
so verändert werden, dass es den Einsatz der
Instrumente ermöglicht und unterstützt.
Debiasing-Techniken
als Lösungsansatz
Lassen Sie uns zunächst – ohne jeden An-
spruch auf Vollständigkeit – einige Techniken
zur
Reduktion von kognitiven Verzerrungen
(„Debiasing“)
kurz vorstellen. Um Sie nicht mit
einer langen „Wäscheliste“ einzelner Techniken
zu überwältigen, haben wir ein Framework ent-
wickelt, das verschiedene instrumentelle Lö-
sungsansätze problemorientiert bündelt. Einige
der genannten Techniken werden Sie schon
aus anderen Zusammenhängen heraus ken-
nen, andere werden Ihnen neu sein.
Das erste Bündel an Techniken dient dazu, eine
durch Hierarchie, Politik oder schlicht durch
starke Persönlichkeiten geprägte
Diskussion
zu entpersonalisieren
. Dies kann zum Beispiel
durch den Einsatz eines (wirklich) neutralen Mo-
derators unterstützt werden oder auch dadurch,
dass jeweils der Jüngste bzw. Rangniedrigste
im Raum zuerst nach seiner Meinung gefragt
wird. Die politischen Schwergewichte müssen
sich dann erst mal zurückhalten. Haben Sie den
Eindruck, dass die Junioren die Meinung der
Chefs antizipieren und sich nicht wirklich offen
äußern, verbleibt noch die Möglichkeit einer
geheimen Abstimmung: Jeder Teilnehmer
schreibt sein Votum auf ein Blatt Papier.
Ein zweites Bündel an Techniken zielt darauf
ab,
eingefahrene Denkmuster aufzubre-
chen
(„think out of the box“). Hier kann man
sich etwa die bekannte Technik des Brainstor-
mings oder – in schriftlicher und damit zu-
nächst anonymer Form – des Brainwritings vor-
stellen. Mit deutlich mehr Aufwand verbunden
sind eine Szenario-Analyse und der sogenann-
te „Zero-Based Approach“ – bei diesem startet
das Team mit einem weißen Blatt Papier, igno-
riert den Status Quo (so gut es geht) und stellt
die Frage, was man tun würde,
wenn man
noch einmal neu anfangen würde
. Eine letz-
te Technik stellt unter der Maxime „Imagine the
new boss!“ die Frage, was denn wohl einem
neuen Chef im Unternehmen in der ersten Wo-
che auffallen würde.
Das dritte Bündel zeichnet sich durch das ge-
meinsame Ziel aus,
neue Perspektiven in die
Diskussion zu bringen
. Dies kann zum Bei-
spiel mit Hilfe von etablierten Techniken wie
Benchmarking und War Gaming geschehen;
aber auch der Einsatz von internen und exter-
nen Experten oder der Erfahrungsaustausch
mit anderen Unternehmen sind hier zu nennen.
Grundsätzlich gilt aber auch: Man kann Exper-
ten, Benchmarks und alle anderen genannten
Techniken als Alibi missbrauchen und sie nur zu
Legitimationszwecken nutzen – nicht nur das
Feld der Politikberatung weiß ein Lied davon zu
singen. Es kommt daher auf die Intention an –
geht es im Benchmarking wirklich darum, aus
einer externen Perspektive auf Prozesse und
Produkte Neues zu lernen? Geht es bei dem zu
Rate gezogenen Experten wirklich um seinen
unabhängigen Drittblick? In der Regel werden
sich diese Fragen nicht losgelöst von der Kultur
des Unternehmens beantworten lassen, aber
dazu später mehr.
Das vierte Bündel an Techniken dient dazu,
Kritik im Unternehmen zu organisieren
.
Die wohl bekannteste Methode besteht darin,
ein Teammitglied explizit damit zu beauftra-
gen, als „Advocatus Diaboli“ gegen ein Projekt
zu argumentieren. Ganz ähnlich schießt in ei-
ner „Bullet Session“ ein damit beauftragtes
Team möglichst viele Kritikpunkte und offene
Fragen gegen eine Entscheidungsvorlage ab,
die dann schriftlich und in Ruhe adressiert
werden müssen. Andere Techniken zur Orga-
nisation von Kritik stellen eine
schützende
Anonymität
her: So gewährt eine (professio-
nell durchgeführte) Mitarbeiterbefragung ge-
nauso Schutz wie ein Briefkasten für anony-
mes Feedback, eine anonyme Onlineplattform
oder die Möglichkeit, während einer Panel-
veranstaltung anonyme SMS mit Fragen und
kritischen Hinweisen zu senden.
Das fünfte Bündel zwingt die Beteiligten dazu,
die obligatorische Erfolgsperspektive aufzuge-
ben und aus der Situation eines ansonsten häu-
fig tabuisierten
Scheiterns über betriebliche
Vorgänge nachzudenken
. Neben dem jedem
Controller bekannten Instrumentarium von Risi-
koprofilen und Risikocockpits kann auch der
Einsatz von eigens anberaumten Feedback-
Sitzungen nach einem Entscheidungsprozess
hilfreich sein: Er gibt allen Beteiligten die Mög-
lichkeiten, nochmal darüber nachzudenken,
was gut, aber auch was schlecht gelaufen ist.
Weiter gehen eine sogenannte Post-Mortem
Session, die ein gescheitertes Projekt auf die
Misserfolgsursachen hin analysiert, und eine
Pre-Mortem Session, bei der das Team ein
noch gar nicht eingetretenes Scheitern des
Projekts simuliert und versucht, aus diesem ge-
danklichen Experiment zu lernen.
Das letzte und sechste Bündel an Techniken
ist weitgehend vertrautes Terrain für Controller
und versucht,
die Rationalität des Entschei-
Wirklich rationale Entscheidungen
1...,2,3,4,5,6,7,8,9,10,11 13,14,15,16,17,18,19,20,21,22,...116
Powered by FlippingBook