CONTROLLER_MAGAZIN_04/2016 - page 28

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Viele dieser Biases wurden zunächst in der Fi-
nanzierungstheorie unter dem Stichwort Beha-
vioral Finance aufgegriffen, denn eine Reihe
von Kapitalmarktanomalitäten lässt sich mit der
Annahme arbitragefreier und vollkommener
Märkte nicht erklären, sondern erst, nachdem
die Überlegungen von Kahneman und Tversky
zugrunde gelegt werden. In der Controlling­
forschung kam diese Forschungsrichtung erst
später an. Sie ist aber meines Erachtens heute
eines der wichtigsten Felder, in denen wir im Sin-
ne einer gestaltungs- und anwendungsorientier-
ten Theoriefindung und -prüfung wissenschaftli-
chen Fortschritt erreichen müssen.
Biel:
Warum engagieren Sie sich auf diesem
Themenfeld? Was ist Ihnen wichtig?
Weißenberger:
Unsere Aufgabe als Wissen-
schaftler ist es nicht mehr nur, die Controlling-
instrumente in einem idealtypischen Setting
immer weiter zu verfeinern, sondern es muss
auch darum gehen,
den sachgemäßen Ein-
satz vor dem Hintergrund beschränkt-rati-
onaler Entscheider zu verbessern.
Biel:
Bitte lassen Sie hier nachfragen: Aber
wie lassen sich systematische Entscheidungs­
verzerrungen belegen? Und wie können aus
diesen Erkenntnissen praktische Gestaltungs-
hinweise abgeleitet werden?
Weißenberger:
In diesem Forschungsfeld spielt
vor allem die experimentelle Forschung eine
wichtige Rolle. Das möchte ich Ihnen gerne am
Beispiel einer Studie veranschaulichen, die
ich mit meiner Mitarbeiterin Christine Ohlert im
letzten Jahr im Journal of Management Control
publiziert habe. In dieser Studie hat uns vor
allem interessiert, wie die sogenannte
Base-
rate Fallacy
vermieden werden kann. Dieser
Entscheidungsfehler spielt praktisch immer
dann eine große Rolle, wenn es um bedingte
Wahrscheinlichkeiten einer Grundgesamtheit
geht. Nehmen wir beispielsweise an, dass Sie
zwei Anlagen A und B haben, auf denen ein Pro-
dukt gefertigt wird. Anlage A hat eine deutlich
höhere Kapazität als Anlage B, außerdem eine
geringere Fehlerrate. Nun stellen Sie nachträg-
lich fest, dass einige Produkte fehlerhaft sind –
Sie wissen aber nicht, bei welcher Anlage dieser
Fehler verursacht worden ist. Welche Anlage le-
gen Sie als erstes still, um das Wartungsteam
nach der Fehlerquelle suchen zu lassen? Viele
antworten spontan: „Anlage B“ – weil die Pro-
duktionsausfälle während der Reparaturzeit auf-
grund der geringeren Kapazität kleiner sind oder
schlichtweg, weil die Fehlerrate höher ist. Oft ist
das aber genau die falsche Antwort, nämlich im-
mer dann, wenn auf Anlage A so viel gefertigt
wird, dass die absolute Anzahl der fehlerhaften
Teile selbst bei einer geringeren Fehlerrate im-
mer noch höher ist als bei der Anlage B. Dann ist
nämlich die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass
die fehlerhaften Produkte aus Anlage A stam-
men, höher. Und dann sollte auch dort mit der
Fehlersuche begonnen werden.
Biel:
Uns interessiert an dieser Stelle, ob und ggf.,
wie Sie dieses Thema weiter verfolgt haben.
Weißenberger:
Das verstehe ich. Wir haben
nun Probanden eine Fallstudie vorgelegt, bei
der ein solches Entscheidungsproblem zu lösen
war. Gleichzeitig haben wir das
Format, in de-
nen die Informationen vorgelegt wurden
,
verändert – manche Gruppen erhielten eine
grafische Darstellung, andere einen tabella­
rischen Überblick, wieder andere einen Text.
Zudem haben wir Persönlichkeitsmerkmale wie
u. a. den kognitiven Stil und das statistische
Grundwissen erhoben.
Biel:
Art und Form der Vorlage bzw. Präsenta­
tion wirken beeinflussend?
Weißenberger:
Genau. Der Charme eines sol-
chen experimentellen Designs besteht darin,
dass anhand von Abweichungen in den Ant-
worten der unterschiedlichen Experimental-
gruppen relativ gut vorhergesagt werden kann,
ob ein bestimmtes Merkmal, hier z. B.
das Prä-
sentationsformat der Informationen, einen
kausalen Einfluss auf die Entscheidungs-
qualität hat.
Tatsächlich konnten wir zeigen,
dass gerade bei Nicht-Betriebswirten die grafi-
sche Präsentation anderen Formaten durch ei-
nen geringeren Entscheidungsfehler klar über-
legen war, sodass hier eine unmittelbare
Hand-
lungsempfehlung für die Gestaltung von
Controllingberichten
resultiert. Keinen Ein-
fluss hatte interessanterweise das statistische
Grundwissen, sehr wohl aber wiederum der
kognitive Stil: Je weniger die Probanden eine
Präferenz für analytisches Denken (System 2)
haben, umso höher ist der Entscheidungsfehler.
Gerade in einem solchen Setting spielt dann die
Beratungsfunktion des Controllings eine beson-
dere Rolle.
Biel:
Geht diese Arbeit weiter?
Weißenberger:
Ja, in dieser Form werden in-
zwischen immer häufiger Experimente durch­
geführt – manchmal sogar als natürliche Experi-
mente, nämlich immer dann, wenn in Unterneh-
men strukturell Controllinginstrumente verändert
oder angepasst werden. Das ist für die Control-
lingforschung ein extrem spannendes Feld.
Biel:
Wir haben also die Aufgabe, nicht nur eine
„Aussage“ zu treffen, sondern dabei auch die
Aussageform und andere mögliche Auswirkun-
gen zu bedenken.
Autoren
Prof. Dr. Barbara E. Weißenberger
ist Inhaberin des Lehrstuhls für Accounting, Heinrich-Heine-
Universität Düsseldorf, sowie Affiliate Professor of Accounting,
Bucerius Law School.
E-Mail:
Fachjournalist (DFJS) Dipl.-BW Alfred Biel
ist Autor, Interviewer und Rezensent verschiedener Medien mit
reichhaltiger Erfahrung aus verantwortlichen Konzern-Tätig-
keiten und Aufgaben in mittelständischen Unternehmen. Be-
triebswirtschaftlicher und journalistischer Abschluss. Ehren-
mitglied des Deutschen Fachjournalisten Verbandes (DFJV)
und des Internationalen Controller Vereins (ICV).
E-Mail:
Interview zum Thema: Verhaltensorientiertes RW und Controlling – haben wir Nachholbedarf?
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