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09/15 personalmagazin
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an
„normale und übliche“ Nahrungszufuhr
handelt. Wenn es sich dagegen um eine
vom Arbeitgeber veranlasste „atypische
Nahrungsaufnahme“ handelt, dann soll
dieser Grundsatz nicht mehr gelten. Die
Nahrungsaufnahme hat dann einen für
die Annahme eines Arbeitsunfalls not-
wendigen betrieblichen Anlass.
Hastige atypische Nahrungsaufnahme
Wer nun glaubt, er brauche nur darzu-
legen, dass die Einnahme der Mahlzeit
im Betrieb – unter Inkaufnahme einer
schmucklosen und lärmgefüllten Be-
triebskantine – einem Vergleich zum
häuslichen, in Ruhe genossenen Mit-
tagstisch nicht standhält und daher zur
atypischen,
arbeitgeberveranlassten
Nahrungsaufnahme wird, der geht zu
weit. Er argumentiert jedoch grundsätz-
lich in die richtige Richtung. Denn: Eine
atypische Nahrungsaufnahme wird von
der Rechtsprechung dann angenom-
men, wenn ein Mitarbeiter durch be-
triebliche Umstände gezwungen ist, in
besonders intensiver Hast ein Kantinen-
essen zu verzehren. Derartiges hat das
Bundessozialgericht (BSG) erstmalig in
einer Entscheidung aus dem Jahre 1963
bejaht. Dabei ging es um einen Fall, in
dem ein Arbeitnehmer eine Rindsroula-
de einschließlich der darin befindlichen
Holzspießchen verzehrt hatte. Diese
wohl unzweifelhaft atypische Nahrungs-
aufnahme war darauf zurückzuführen,
dass der Mitarbeiter die Mittagspause
noch zu Besprechungen mit Betriebs-
angehörigen habe nutzen müssen und
deshalb das Mittagessen in besonderer
Hast verzehrt habe.
Von einer atypischen Nahrungsauf-
nahme wird aber auch außerhalb der vor-
gesehenen – und daher im Regelfall dem
privaten Bereich zuzuordnenden – Pau-
sen gesprochen, wenn vom Arbeitnehmer
zuvor eine Tätigkeit abverlangt wird, die
ein besonderes Hunger- oder Durstgefühl
hervorruft. Losgetreten hatte das BSG
diese besonderen, einen Arbeitsunfall be-
gründenden Fälle durch den sogenannten
Sprudelwasserfall. Eine Polsterei-Arbei-
terin wollte eine Flasche Sprudelwasser
öffnen, die sie an ihrem Arbeitsplatz zum
Trinken bereitgestellt hatte. Die Flasche
explodierte und die Glassplitter verletzten
die Mitarbeiterin am Auge.
Das BSG erkannte auf einen Arbeits-
unfall, weil das dem Trinken vorangegan-
gene Durstgefühl in einem ursächlichen
Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit
begründet sei und der Erhaltung der Ar-
beitsfähigkeit wesentlich diente (BSG,
Urteil vom 30. Juni 1961, Az. 2 RU 78/60).
Wenn ein Mitarbeiter also, so die Quintes-
senz dieser Entscheidung, eine Tätigkeit
ausübt, die aufgrund ihrer Art ein beson-
deres Durstgefühl hervorruft, trinkt er
dienstlich und nicht mehr privat.
Zugegeben, eine recht großzügige
Rechtsprechung. Denn wer kann denn
nicht zunächst glaubhaft vortragen, dass
seine Tätigkeit durstauslösend ist. Das
muss sich das BSG wohl auch gedacht
einer als privat zu wertenden Trinkpause
geschehen. Zum anderen ist der Unfall auf
einen Scherz des Kollegen zurückzuführen.
Gegen das erste Argument könnte Franz
möglicherweise erfolgreich einwenden,
dass der Griff zur Getränkeflasche aufgrund
betriebsbedingter Umstände erfolgt ist.
Was den Scherz des Kollegen Fritz betrifft,
so kann auch dies für die Annahme eines
Arbeitsunfalls unschädlich sein, wenn der
Scherz als eine auf dem Bau typische Situa-
tion zu werten ist.
Gelingt es dem Franz nicht, das Sozi-
algericht zu überzeugen, sondern wird
festgestellt, dass ein Privatunfall vorliegt,
wird Franz lediglich eine Rente aus der
gesetzlichen Rentenversicherung beziehen
können. Deren Höhe wird letztlich von
seinen persönlichen Versicherungsverhält-
nissen abhängen.
Kann Franz jedoch erfolgreich einen
Arbeitsunfall reklamieren, so spielen für
ihn die Umstände des Ereignisses keiner-
lei Rolle mehr. Selbst wenn es verboten
oder als grob fahrlässig anzusehen wäre,
auf einem Gerüst einen Rucksack voller
Getränke mitzuführen, würde dies keinen
Nachteil für ihn bedeuten. Schließlich heißt
es in § 7 SGB VII: „Verbotswidriges Handeln
schließt einen Versicherungsfall nicht aus.“
In diesem Fall würde Franz eine lebenslan-
ge Unfallrente zugesprochen, die sich aus
seinem Nettoeinkommen errechnet und mit
dem Rentenkonto nichts zu tun hat.
Ein Erfolg wäre die Anerkennung als Ar-
beitsunfall zunächst auch für den Kollegen
Fritz und den Arbeitgeber, gegen die Franz
keine zivilrechtlichen Haftungsansprüche
mehr hätte. Würde ein Arbeitsunfall festge-
stellt, sind diese gegen unfallverursachende
Kollegen und den Unternehmer gesetzlich
ausgeschlossen (§§ 104, 105 SGB VII).
Dass bei der Variante der Unternehmer
gleichwohl zur Kasse gebeten wird, liegt an
§ 111 SGB VII. Danach wird er in der Höhe
der von der Berufsgenossenschaft tatsächlich
erbrachten Leistungen in Regress genom-
men, wenn er den Versicherungsfall grob
fahrlässig verursacht hat. Grobe Fahrlässig-
keit dürfte man wohl bei der Anordnung,
ohne Fangnetz zu arbeiten, annehmen.
VIDEO
In der App sehen Sie ein Video zu skur-
rilen Arbeitsunfällen.
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