personalmagazin 11/2015 - page 78

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RECHT
_KÜNDIGUNG
personalmagazin 11/15
2 AZR 206/11). Entscheidender Zeit-
punkt für das Vorliegen von objektiven
Tatsachen ist der Zugang der Kündi-
gungserklärung. Lagen entlastende
oder belastende Umstände zu diesem
Zeitpunkt vor, sind sie zu berücksichti-
gen, wenn sie bis zur letzten mündlichen
Verhandlung in der Tatsacheninstanz
vorgebracht werden.
Darüber hinaus muss eine große
Wahrscheinlichkeit für die Begehung ei-
ner Arbeitspflichtverletzung oder Straf-
tat durch den Arbeitnehmer bestehen,
das heißt der Arbeitgeber muss seinen
Verdacht auf konkrete Tatsachen stüt-
zen können und das Fehlverhalten des
Arbeitnehmers muss zumindest über-
wiegend wahrscheinlich sein. Verdächti-
gungen oder Spekulationen, die lediglich
auf vagen Vermutungen beruhen, rei-
chen nicht aus. Die zur Begründung des
Verdachts vom Arbeitgeber vorgetrage-
nen Tatsachen müssen tatsächlich zu-
treffen und geeignet sein, den Verdacht
zu rechtfertigen (BAG, Urteil vom vom
10.2.2005, 2 AZR 189/04).
Erfordernis der Anhörung des Mitar-
beiters vor der Verdachtskündigung
Da die Verdachtskündigung im Ver-
gleich zur Tatkündigung das schärfere
Mittel darstellt, muss der Arbeitgeber
alle zumutbaren Anstrengungen zur
Aufklärung des Sachverhalts unterneh-
men. Hierzu zählt insbesondere eine
Anhörung des Arbeitnehmers, in dessen
Rahmen demArbeitnehmer die Möglich-
keit zur Stellungnahme einzuräumen
ist. Der Arbeitnehmer muss die Mög-
lichkeit haben, Verdachtsmomente zu
entkräften, zu bestreiten oder entlasten-
de Tatsachen vorzubringen. Aufgrund
der im deutschen Recht geltenden Un-
schuldsvermutung ist der Arbeitgeber
verpflichtet, auch entlastenden Indizien
nachzugehen, um eine umfangreiche
Sachverhaltsaufklärungzugewährleisten.
Die Anhörung des Arbeitnehmers ist
nicht an formelle Voraussetzungen ge-
bunden und kann somit sowohl schrift-
lich als auch mündlich erfolgen. Dennoch
sollte der Arbeitnehmer in jedem Falle
schriftlich angehört werden, um die ord-
nungsgemäße Anhörung in einem späte-
ren Kündigungsschutzverfahren besser
beweisen zu können. Einer Anhörung
bedarf es im Ausnahmefall dann nicht,
wenn der Arbeitnehmer von vornherein
nicht dazu bereit ist beziehungsweise
sich weigert, zu den Vorwürfen substan-
ziiert Stellung zu nehmen.
Bleibt der schwerwiegende Verdacht
einer Arbeitspflichtverletzung oder Straf-
tat auch nach erfolgter Sachverhaltsauf-
klärung bestehen, ist im Rahmen einer
Interessenabwägung zu prüfen, ob dem
Arbeitgeber ein Festhalten am Arbeits-
verhältnis (bis zum Ablauf der Kündi-
gungsfrist) zugemutet werden kann.
Insbesondere zu berücksichtigen sind
die Persönlichkeit und die Vertrauens-
stellung des Arbeitnehmers sowie die
Dauer seiner Betriebszugehörigkeit und
die eventuelle Wiederholungsgefahr.
Verdachtskündigung als ordentliche
oder außerordentliche Kündigung
Die Verdachtskündigung kann sowohl
als ordentliche (fristwahrende) als auch
als außerordentliche (fristlose) Kündi-
gung ausgesprochen werden. Bei der
außerordentlichen Kündigung findet
auch im Rahmen einer Verdachtskün-
digung eine klassische, zweistufige Prü-
fung statt. Der Verdacht bezüglich des
Fehlverhaltens muss an sich geeignet
sein, die außerordentliche Kündigung zu
rechtfertigen (erste Prüfungsstufe). Zu-
dem muss es dem Arbeitgeber aufgrund
des Tatverdachts unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalls unzumut-
bar sein, das Arbeitsverhältnis bis zum
Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist
fortzusetzen (zweite Prüfungsstufe).
Die Anforderungen an die Schwere
des Verdachts unterscheiden sich bei
einer ordentlichen und bei einer außer-
ordentlichen Kündigung jedoch nicht.
In beiden Fällen bedarf es damit einer
großen Wahrscheinlichkeit, dass der
Arbeitnehmer eine schwerwiegende
Verfehlung begangen hat. Wichtig: Die
grundsätzlichen Prüfungspunkte im
Kündigungsverfahren (zum Beispiel be-
sonderer Kündigungsschutz aufgrund
Schwangerschaft, Schwerbehinderung
oder Mitgliedschaft im Betriebsrat) sind
auch bei einer Verdachtskündigung zu
beachten.
Außerordentliche Kündigung: Beson-
derheiten bei der Zwei-Wochen-Frist
Beabsichtigt der Arbeitgeber, eine außer-
ordentliche Kündigung auszusprechen,
so hat er hierfür ab Kenntniserlangung
von der Pflichtverletzung oder Straftat
grundsätzlich zwei Wochen Zeit. Nach
Ablauf dieser Frist ist eine Kündigung
in aller Regel unwirksam. Die Frist be-
ginnt, wenn dem Arbeitgeber sämtliche
für die Kündigung maßgeblichen Tat-
sachen bekannt geworden sind. Im Fall
einer Verdachtskündigung sieht sich der
Arbeitgeber jedoch mit der Notwendig-
keit einer möglichst umfassenden Sach-
verhaltsaufklärung konfrontiert. Daher
beginnt die Zweiwochenfrist in diesem
Fall erst zu laufen, wenn der Arbeitgeber
sämtliche zur Aufklärung notwendig er-
scheinenden Maßnahmen (insbesondere
Anhörung des Arbeitnehmers) durch-
geführt hat und ihm eine abschließen-
de Bewertung der Verdachtsmomente
möglich ist. Für die Anhörung des Mitar-
beiters räumt die Rechtsprechung dem
Arbeitgeber in der Regel einen Zeitraum
von einer Woche ein.
Der Arbeitnehmer sollte
schriftlich angehört wer-
den, um die ordnungs-
gemäße Anhörung im
späteren Kündigungs-
schutzverfahren besser
beweisen zu können.
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