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jetzt erfolgt ein Vergleich der Bewerber,
die alle Mindestanforderungen erfüllt
haben, um die endgültige Auswahlent-
scheidung treffen zu können.
In der Praxis deutscher Unternehmen
sieht es ganz anders aus: Der Vergleich
mit einem Anforderungsprofil ist bislang
eher eine Ausnahme. Obwohl 29 Prozent
der Befragten angeben, dass Anforde-
rungsprofile existieren, spielen sie bei
der Auswahlentscheidung nur noch in
19 Prozent der Fälle eine Rolle. Fast drei
Viertel der Unternehmen (73 Prozent)
treffen ihre Auswahlentscheidung, ohne
dass Punktwerte oder Anforderungspro-
file irgendeine Rolle spielen. Was zählt,
ist ein Gesamteindruck, bei dem völlig
unklar ist, wie er zustande kommt.
Die Befragung zeigt insgesamt: Die
Potenziale der Interviews werden in den
meisten Unternehmen bei Weitem nicht
zur Entfaltung gebracht. Die Verfahren
sind zu wenig auf die Anforderungen ei-
ner Stelle zugeschnitten und lassen dem
Interviewer extrem große Freiheit. Diese
Freiheit, die der einzelne Interviewer ge-
rade als Stärke seines Vorgehens erleben
mag, führt zu nachweislich weniger gu-
ten Auswahlentscheidungen. Die Grün-
de hierfür sind vielfältig:
• Da der Interviewer sich individuell die
Fragen ausdenkt, würden verschiedene
Interviewer bei ein und demselben Kan-
didaten zu unterschiedlichen Einschät-
zungen gelangen, obwohl die Eignung
des Kandidaten dieselbe bliebe.
• Messfehler bei der Bewertung einzel-
ner Fragen werden nicht kontrolliert.
• Es ist völlig unklar, inwieweit über-
haupt ein Maßstab zur Bewertung der
Bewerber existiert und ob er bei allen Be-
werbern gleichermaßen eingesetzt wird.
• Klassische Beurteilerfehler können
voll auf das Ergebnis durchschlagen.
• Da die Antworten nicht systematisch
ausgewertet werden, erhalten einzelne
Informationen ein starkes Gewicht und
überlagern die übrigen.
UWE PETER KANNING
ist seit 2009 Professor für
Wirtschaftspsychologie an der
Hochschule Osnabrück.