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brauch einfach wieder abgestellt werden. Allei-
ne in Berlin betreiben die Top-Anbieter DriveN-
ow und Car2Go zusammen bereits über 2.100
Fahrzeuge (Quelle: Betreiber). Google hinter-
fragt das Konzept des durch einen Fahrer ge-
steuerten Automobils grundlegend – und hat im
Mai 2014 zum ersten Mal eine kleine Gruppe
von Journalisten zur rein computergesteuerten
Testfahrt eingeladen. Im Straßenverkehr, nicht
im Labor. Die traditionellen Automobilhersteller
hatten das Konzept zunächst belächelt – heute
sorgen sie sich, dass branchenfremde Innova-
toren ihre Marktposition erschüttern könnten.
Die Finanzindustrie realisiert erst langsam,
dass Digitalisierung nicht nur eine Veränderun-
gen der Prozesse für Sales & Service bedeuten
wird. So ist es denkbar, dass zukünftig Versi-
cherungsprodukte eine Kombination aus klassi-
schem Schutz und elektronischer Lösung sein
könnten: Die Hausratversicherung wird durch
inkludierte Innenraumüberwachung günstiger –
und schafft Mehrwerte für den Kunden. Mög-
lich ist auch, dass reine Vermittlungsportale wie
z. B. der Kreditmarktplatz smava an Bedeutung
gewinnen: Hier macht der Kunde das Produkt,
der Anbieter stellt nur die Plattform. Wie bei
Ebay. Schließlich steht mit der Änderung der
Konsumentengewohnheiten auch die Notwen-
digkeit und letztlich die Überlebensfähigkeit des
gesamten Filialgeschäftes der Banken in Frage.
Die Veränderungen durch Digitalisierung be-
deuten Risiken für tradierte Geschäftsmodelle
– bergen aber auch enorme Potenziale. Um
diese zu erschließen wird viel Wagniskapital
aufgewendet: In den USA – hauptsächlich im
Silicon Valley – letztes Jahr knapp 30 Mrd. USD
(Quelle: Bundesverband deutscher Kapital-
beteiligungsgesellschaften). Zum Vergleich: In
Deutschland wurde im selben Zeitraum nur ca.
1 Mrd. USD an Venture Capital investiert (glei-
che Quelle). Eine der führenden Industrienatio-
nen hinkt bei der digitalen Innovation massiv
hinterher. In der DACH-Region und in Europa
besteht insgesamt eine große Unsicherheit, wie
mit der Digitalisierung umgegangen werden
soll, welche Strategien die richtige Antwort auf
sich verändernde Rahmenbedingungen sind.
Sogenannte „Rainmaker“ – einflussreiche Ven-
ture-Capital-Investoren wie die ehemaligen
Netscape-Pioniere Marc Andreessen und Ben
Horowitz – machen dafür die hiesige Risiko-
scheu und Bürokratie verantwortlich (Quelle:
Thomas Schulz, Spiegel Online, Mai 2014). Da-
bei ist es durchaus möglich, die digitale Evolu-
tion voranzutreiben und parallel an der Revolu-
tion zu partizipieren – auch ohne Investitionen
in extremen Größenordnungen. Untätigkeit
kann allerdings schwerwiegende Folgen haben
–
und ein einmal aufgebauter Rückstand ist
vielleicht nicht mehr aufzuholen.
Unternehmen müssen sich jetzt
auf die Digitalisierung einstellen
Unternehmen fokussieren sich meistens auf die
Geschäftsfelder, die heute Profitabilität bringen.
Die Aufmerksamkeit ist dort, wo Geld verdient
wird. Das Generieren zukünftiger Erfolgspoten-
ziale kostet hingegen Geld – und wird deswegen
oft vernachlässigt. Im Umfeld der Digitalisierung
ist es wichtig, ein ausgewogenes Programm zu
entwickeln: Bestehende Geschäftsmodelle
müssen fit für die Digitalisierung gemacht
werden. Hier muss eine Evolution stattfinden.
Gleichzeitig sollten die Chancen für neue Märk-
te und Potenziale untersucht werden – Unter-
nehmen müssen ihre Rolle in der digitalen Re-
volution finden und angemessen investieren.
Leider widersprechen sich beide Handlungsfel-
der:
Die Evolution entwickelt Bestehendes
kontinuierlich weiter, die Revolution ver-
drängt, zerstört, schafft Neues.
Man spricht
auch von „Sustaining“ und „Disruptive“ Innova-
tion. Es ist in der Theorie unmittelbar einleuch-
tend, dass dieselbe Organisationseinheit nicht
sinnvoll das Bestehende weiterentwickeln
kann, um es gleichzeitig grundlegend in Frage
zu stellen. In der Praxis wird jedoch häufig ge-
nau dies versucht – z. B. in F&E-Abteilungen.
Oder von diesen erwartet. Doch wer bspw. über
die Optimierung der Logistikprozesse nach-
denkt, wird schwerlich auf die scheinbar ver-
rückte Idee kommen, Pakete durch Drohnen
ausliefern zu lassen – wie Amazon. Wer für das
Filialgeschäft (mit-) verantwortlich ist, hat eine
schlechte Ausgangsposition, um ein „Pure
Digital“-Modell zu entwickeln. Ohne Filialen.
Es ist sinnvoll, die Handlungsfelder Evolution
und Revolution voneinander zu trennen. Die
notwendigen evolutorischen Entwicklungen
können gut von bestehenden Abteilungen wie
der Unternehmensentwicklung oder F&E ge-
trieben werden – wichtig ist eine unterneh-
mensweite Koordination. Wenn diese Entwick-
lung noch am Anfang steht, kann ein mit ex-
terner Unterstützung durchgeführter „Health
Check“ helfen. Die Definition von wichtigen Op-
timierungspotenzialen, die Priorisierung der
Aufgaben und die Entwicklung einer Roadmap
sind sinnvoll. Das Treiben revolutionärer Ent-
wicklungen innerhalb der bestehenden Struk-
turen ist jedoch schwierig und i.d.R. nur dann
Erfolg versprechend, wenn bereits eine ausge-
sprochene Innovationskultur vorhanden ist:
„Thinking out oft he Box“ erfordert eben, diese
„Box“ auch zu verlassen. Optionen für einen
Entwicklung außerhalb der bestehende Struk-
turen sind bspw. Innovationslabs – ggf. in einer
Kombination intern/extern, Joint Ventures, In-
kubatoren/Acceleratoren sowie Venture Capital
Fonds. Dabei gibt es auch die Möglichkeit, sich
an verschiedenen Modellen zu beteiligen. So
kann bei reduzierten Kosten trotzdem vom Inno-
vationspotenzial profitiert werden.
Durch die hohe Dynamik der Digitalisierung, die
Komplexität des Themas, die unterschiedliche
Position von Branchen im Veränderungszyklus
und die Individualität von Unternehmen kann
keine generelle Empfehlung für das beste Vor-
gehen ausgesprochen werden. Die Auswirkun-
gen der Digitalisierung werden absehbar aber
jedes Unternehmen betreffen – und es gibt nur
eine falsche Strategie: Abwarten.
Autor
Dirk Schmachtenberg, MBA
ist Geschäftsführer der Trevisto GmbH in Berlin und Nürnberg. Er
forschte zu seiner mit Auszeichnung bewerteten Master Thesis
zum Thema Kernkompetenzen in der Digital Living Industrie. In
seiner über 10-jährigen Erfahrung als Management-Berater mit
den Schwerpunkten Strategie, Marketing, Digitalisierung und
CRM leitete er Projekte für namhafte Unternehmen wie bspw.
MasterCard, VR-Gruppe, ERGO Versicherungen oder e.on.
Digitalisierung