wirtschaft und weiterbildung 7-8/2019 - page 30

personal- und organisationsentwicklung
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wirtschaft + weiterbildung
07/08_2019
R
auch bestmöglich prozessieren“, meint
Kristin Lutz. Wer sich auf die neuen
holakratischen Prozesse fokussiere, ver-
gesse darüber jedoch leicht den gesunden
Menschenverstand und werde „prozess-
dumm“. Aus Übereifer schränkten vor
allem Holakratie-Neulinge oft unnötiger-
weise ihre eigene Freiheit ein. Statt wie
gewohnt die anderen in der Kaffeeküche
anzusprechen oder zum Hörer zu grei-
fen, warte man, bis wieder „Tactical“ sei.
„Wir können auch in der Holakratie je-
derzeit miteinander reden.“
Warum Holakratie „zieht“
„Ein Tactical Meeting ist nur eine Notauf-
nahme“, hat Josefine Priesnitz gelernt.
Seit etwa einem Jahr arbeitet sie bei
Europace als UX-Designer: Sie gestaltet
nutzerfreundliche Softwareoberflächen,
validiert die vorhandenen Produkte und
forscht an neuen Lösungen. Die 33-Jäh-
rige schätzt die Begleitung durch die
Coachs sehr. Manchmal liefen die Mee-
tings wie von selbst, bisweilen sei es
aber auch zäh. Die Gewohnheitsfalle lau-
ert überall. Gerne versuche man, einen
Konsens zu erreichen, statt Spannungen
zuzulassen. „Die Coachs fragen einfach
mal nach, warum wir bestimmte Dinge
so oder so machen. Da kommt man ins
Grübeln und das ist Gold wert.“
Auf die Frage, ob sie sich das alles hier
so vorgestellt hat mit der Holakratie, sagt
sie: „Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber
ich finde das großartig. Ich wusste an-
fangs nur, es wird etwas mit Selbstorga-
nisation sein und das hat sich spannend
angehört.“ Bei ihren vorherigen Arbeit-
gebern musste sie oft ewig warten, bis
eine Entscheidung von oben kam. Wenn
der Chef nicht da war, passierte einfach
nichts – Aufgaben blieben liegen. Das
komme hier bei Hypoport nicht vor. „Wir
haben die Autonomie, Dinge einfach zu
machen, wenn sie auf den Purpose eines
Kreises einzahlen“, so die UX-Designerin.
Deshalb könne man sehr schnell Projekte
anstoßen. Ein Hindernisgrund sei da
meist eher noch der Kontakt nach außen.
Josefine Priesnitz möchte beispielsweise
die Vermittler im Bank-Eigenvertrieb
kennenlernen und ihnen bei ihrer Arbeit
über die Schulter schauen. Sie verspricht
sich davon, dass sie die Softwarelösungen
von Europace dann noch besser machen
kann. Doch einige Banken blocken bis-
lang dieses eher unkonventionelle Vorge-
hen ab. „Da müssen wir noch ein biss-
chen Aufklärungsarbeit leisten. Gerade
suche ich mir interdisziplinär ein paar
Mitstreiter, auch aus anderen Tochterun-
ternehmen. Und da ist niemand, der mir
sagt, das kannst du nicht machen.“
Auch Softwareentwickler Marcus Pflanz
schätzt die Freiheiten, die ihm Holakratie
bietet. Der 31-Jährige hat vor knapp drei
Jahren bei Europace angefangen. Damals
noch zu 100 Prozent Softwareentwickler,
schwankt seine Entwicklertätigkeit nun
zwischen 40 und 60 Prozent. Sein Aufga-
benfeld hat sich mit Einführung von Ho-
lakratie verschoben, auf eigenen Wunsch,
versteht sich. Als Software Developer
schraubt er heute nicht mehr nur an der
Software und deren Architektur. In einem
„People-Kreis“ fiel ein Kollege aus. Wie
in einem solchen Fall üblich, fragte der
„Lead-Link“ im Kreis darüber, wer denn
Lust habe, die Rolle zu übernehmen.
Pflanz bewarb sich darum und ist heute
unter anderem Lead-Link in ebendiesem
Kreis. Dessen Purpose lautet: Wir sind ein
„Great Place to Work“. „Wir schauen da­
rauf, wie es den Kollegen geht, was ihnen
fehlt und wie wir das Umfeld noch besser
gestalten könnten.“ Programmierung und
Personalthemen – gerade diese Kombina-
tion hat es dem Softwareentwickler ange-
tan. Kürzlich war er bei einem „Practitio-
ner-Training“ in Amsterdam, einfach weil
er sein Wissen erweitern und sich für
neue Aufgaben rüsten wollte. Fraglich, ob
dies ohne Holakratie möglich wäre.
In anderen Softwareunternehmen hatte
er zwar auch viele Freiheiten. „Ich war
vorher in einigen Firmen, in denen jeder
mehr oder weniger das machte, was er
wollte. Es gab auch dort keine wirklich
krassen Hierarchien.“ Als er hier anfing,
war für ihn zunächst alles wie immer.
Erst dann ging es mit Holakratie los. „Als
hier die ersten Führungskräfte Verantwor-
tung abgaben, hat sich das für mich sehr
schlüssig angefühlt. Manchmal ging mir
das eher noch nicht weit genug.“ Für ihn
hat Holakratie mehr Klarheit, Beweglich-
keit und Ermächtigung gebracht. Insge-
samt habe es fast niemand gegeben, der
mit dem holakratischen System nicht
klarkam. Das liegt für Marcus Pflanz an
der Herangehensweise: „Holakratie ist bei
uns sehr weich eingeführt worden, nicht
so zack, das ist der Prozess. Wir haben
Josefine Priesnitz.
Sie arbeitet seit etwa
einem Jahr als UX-Designerin bei Hypoport
und findet das Holakratie-Organisations-
modell großartig.
Marcus Pflanz.
Er ist Softwareentwickler,
beschäftigt sich bei Hypoport aber auch
mit Personalthemen.
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