wirtschaft und weiterbildung 7-8/2019 - page 28

personal- und organisationsentwicklung
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wirtschaft + weiterbildung
07/08_2019
daher nicht so strikt nach Verfassung ge-
handhabt. Das war angenehm, aber letzt-
lich nicht wirklich anders als vorher. Wir
haben wieder ewig diskutiert und fragten
uns dann, wieso nennen wir das jetzt
Tactical“, so Schneider. Oft komme ohne
diesen klaren Ablauf beispielsweise je-
mand mit einem Störgefühl. „Emotionen
sind total wichtig, nur man kann sie nicht
dazu nehmen, um in einer Gruppe Ent-
scheidungen zu treffen“, hat der Hypo-
port-Coach gelernt. Für „People & Orga-
nisation“ war die neue Arbeitsweise erst
einmal gestorben. Man versuchte es lie-
ber in anderen Bereichen der Hypoport-
Gruppe – und dann verfassungskonform
oder „by the book“, wie die Hypoportler
sagen.
Von oben nach unten
Einer der Vorreiter von Holakratie im Hy-
poport-Netzwerk ist Stephan Gawarecki,
Mitglied des Vorstands und verantwort-
lich für die Geschäftsbereiche Privatkun-
den und Versicherungsplattform. Der
50-Jährige sitzt ohne Anzug und Krawatte
in seinem Eckbüro mit Glasfront und er-
innert sich an seine ersten Berührungs-
punkte mit der neuen Arbeitsweise: Er
suchte für die Selbstorganisation der Mit-
arbeiter nach einer nichthierarchischen
Vorgehensweise im Entscheidungspro-
zess – und stieß auf die integrative Ent-
scheidungsfindung, wie sie bei Holakratie
üblich ist.
Sehr bald sollte er einen weiteren Vor-
teil des Systems für sich entdecken: „Mir
ist immer mehr klar geworden, dass ich
nicht in jedem Meeting in der gleichen
Rolle bin. Damals war ich nicht nur
Hypoport-Vorstand, sondern auch Ge-
schäftsführer verschiedener Tochterun-
ternehmen. Zudem war oft inhaltlicher
Input von mir gefragt. In einer klassi-
schen Hierarchie kann man diese Rollen
und den Menschen dahinter gar nicht
trennen“, so Gawarecki.
Im holakratischen Denken ist hingegen
jede Aufgabe akribisch einer Rolle zuge-
ordnet. Jedes Thema hat seinen Kreis.
Oder wie es in Holakratie-Sprech heißt:
Jeder Kreis hat einen Purpose. Dieser
soll sich vom Gesamtzweck des Unter-
nehmens ableiten, der etwas sperrig da-
herkommt: ein Unternehmensnetzwerk
schaffen, das Immobilien-, Kredit- und
Versicherungsmärkte mit Technologie
und Infrastruktur unterstützt. Bei Hy-
poport gibt es zum Beispiel den General
Company Circle, kurz GCC, der alle pro-
zessualen Themen lenkt. Ein Unterkreis
des GCC ist beispielsweise der Kreis „Or-
ganisation, Mensch und Gemeinschaft“,
kurz OMG, der sich unter anderem mit
der Zukunft von Führung in der Organisa-
tion und zwischenmenschlichen Themen
beschäftigt.
Hierarchiefrei ist das Ganze also nicht
– doch es herrscht die Hierarchie der
Kreise, nicht der Menschen. Die Kom-
munikation ist in beide Richtungen mit-
einander verschachtelt: Ein sogenannter
„Lead-Link“ wirkt nach innen und ver-
tritt die Interessen eines Kreises in seinen
Subkreisen. Jeder Kreis hat außerdem
einen „Rep-Link“, einen Repräsentanten
für den nächsthöheren Kreis, an den sich
jeder Mitarbeiter wenden kann, um Dinge
„nach oben“ zurückzuspielen.
Als damaliger Vorstand von Dr. Klein Pri-
vatkunden AG lancierte Stephan Gawa-
recki erste holakratische Gehversuche.
Ende 2016 ließ sich sein Management-
team komplett auf die Holakratie-Verfas-
sung ein. „Wir haben das dann bei Dr.
Klein sukzessiv von oben nach unten
ausgerollt.“ Diese Stoßrichtung sei für
die Einführung von Holakratie zwingend.
Zum einen brauche es jemand in der Füh-
rungsetage, der die nötigen Freiräume
gewähre. Hinzu komme eine Vorbild-
funktion. „Es geht nicht darum, dass die
Mächtigen weiterhin den Ton angeben,
sondern sie müssen bereit sein, Verant-
wortung abzugeben.“
Führung neu verteilen
Führung wird dabei nicht weniger, son-
dern neu verteilt. Die Annäherung an
die neue Ordnung erfolgt gleichwohl von
beiden Seiten – von Führungskräften und
Mitarbeitern. „Wir führen gemeinsam“
lautet eines der Hypoport-Prinzipien. Der
Finanzdienstleister kommt bereits von
relativ flachen Hierarchien – die Lücke
zwischen Führungskraft und „Unterge-
benen“ klafft nicht so weit wie andern-
orts. Dennoch ist sie da. Manche über-
springen sie scheinbar federleicht, andere
haben Angst, loszulassen. „Wir haben
Führungskräfte, die sagen, endlich pas-
siert hier mal was. Andere fanden Agili-
tät schon bescheuert – und denken, jetzt
auch das noch“, erzählt Björn Schneider.
Loslassen war auch für Vorstand Stephan
Gawarecki ein Thema. Er gibt zu, das sei
nicht immer einfach. Permanent würden
Entscheidungen getroffen, die er anders
fällen würde. „Oft denke ich, die Heran-
gehensweise haben wir doch vor Jahren
auch schon ausprobiert. Doch jeder muss
seine eigenen Fehler machen und eine
persönliche Leidenskurve durchlaufen.
Das muss ich akzeptieren.“ Doch die gute
Nachricht sei: „Die Mitarbeiter treffen
auch viele richtige Entscheidungen, die
ich vermutlich falsch entschieden hätte.“
Nun versuche er, die Rollen noch effizien-
ter zu besetzen. „Die Rollenbesetzung ist
unsere wichtigste Einflussmöglichkeit in
einer Welt, in der wir als Führungskräfte
nicht mehr alles selbst entscheiden kön-
nen.“
Am anderen Ende der zu überwindenden
Unternehmenspyramide wartet die umge-
kehrte Herausforderung. „Verantwortung
zu geben ist die eine Sache, sie zu neh-
men die andere“, betont Björn Schneider.
Zunächst klinge es cool, Verantwortung
zu haben. Aber nicht mehr auf Chefs zu
schimpfen, sondern Dinge selbst in die
Hand zu nehmen, sei ein langwieriger
Lernprozess. „Es wäre ein Idealzustand,
dass wir uns alle auf Augenhöhe begeg-
nen. Ehemalige Führungskräfte hätten
dann nur noch beratende Funktion. Kei-
ner hätte mehr Angst, Dinge offen aus-
zusprechen, weil sie sich nachteilig aus-
wirken können, zum Beispiel aufs Gehalt.
Wäre ideal, haben wir aber nicht“, räumt
der Coach ein. Vor einigen Jahren sei er
noch enthusiastisch durch die Büros ge-
laufen und habe an das Ende von Füh-
rung geglaubt. Heute ist er sich da nicht
mehr so sicher. „Das dauert wohl noch
eine Weile, weil das viel mit persönlicher
Reife zu tun hat.“
Mit Spannungen umgehen
Schon beim Experimentieren mit agilen
Arbeitsmethoden erkannte Hypoport,
dass Eigenverantwortung einen Kataly-
sator braucht – jemanden, der den per-
sönlichen Reifeprozess anschiebt und
Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Seit fünf Jahren
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