R
wirtschaft + weiterbildung
07/08_2019
29
arbeitet der Finanzdienstleister deshalb
mit Coachs zusammen. Zunehmend spe-
zialisieren sie sich auf Holakratie, bieten
Trainings und Workshops dazu an, be-
gleiten Meetings mittels Shadowing oder
als Facilitatoren. Zwei der inzwischen
neun Coachs haben eine Zertifizierung
von Holacracy One, der Beratungsfirma
von Brian Robertson, die an der Verbrei-
tung seines Systems mitverdient. Intern
bräuchten die Hypoport-Coachs eigent-
lich die kostenpflichtige Zertifizierung
nicht – diese ist vor allem für freie Coachs
vorgeschrieben, wird zumindest nur da
kontrolliert.
Einer der zertifizierten Coachs ist Klaas
Reineke aus Lübeck. Er hat Holakratie bei
Hypoport maßgeblich vorangetrieben und
dafür auch Dennis Wittrock aus Bremen,
ebenfalls Holakratie-Coach, ins Boot ge-
holt. Vor der Festanstellung bei Hypoport
hat der Bremer lange als Freelancer ge-
arbeitet. Ein Unternehmen, in dem ihm
jemand sagt, was er zu tun hat – für ihn
undenkbar. „Hier ist das anders. In der
Holakratie ist jeder der CEO seiner Rolle“,
beteuert er aus dem Off, denn heute ist er
per Videokonferenz zugeschaltet. Wenn
er neue Mitarbeiter oder interne Neulinge
in Sachen Holakratie begleitet, sei das
zunächst ein großes Verlernen und Um-
lernen. Nur für Leute, die vorher noch
nicht in einem klassischen Unternehmen
gearbeitet hätten, fühle sich das sofort
stimmig an. „Absolventen zum Beispiel,
die direkt von der Uni kommen, können
einfach clean an Holakratie herangehen.
Für die ist das das neue Normal.“ Für
alle anderen sei es schwieriger, die neuen
Spielregeln zu verinnerlichen.
Besonders zentral dabei: Der Umgang mit
Spannung. Das ist ein großes, allgegen-
wärtiges Wort in der Holakratie. „Span-
nung ist die Lücke zwischen dem, was
ist, und dem, was sein sollte: Das ist das
Potenzial, das uns antreibt und die Orga-
nisation lebendig macht.“ Aus Spannung
entstünden Vorschläge für die Neustruk-
turierung der Zusammenarbeit, etwa in
den Governance Meetings. Letztlich ver-
ändere sich die Organisation nicht mehr
top-down, sondern an allen Ecken und
Enden. „Daraus emergiert mit der Zeit
eine robuste und angemessene Struk-
tur, die Arbeit erleichtert“, findet Dennis
Wittrock.
Normalerweise lernten die Menschen in
der Arbeitswelt, die „Dinge einfach mal
runterzuschlucken und die Klappe zu
halten“. Holakratie zeige hingegen Wege,
Spannung konstruktiv umzumünzen. Die
Coachs haben für diesen Umlernprozess
spezielle Tools entwickelt, zum Beispiel
ein sogenanntes Gewohnheitsprogramm:
Einmal pro Woche beziehen die Mitar-
beiter per E-Mail eine Anregung für ihren
Arbeitsalltag – zum Beispiel: „Schreibe
Deine Spannung auf!“. Denn wenn man
diese nicht festhalte, gehe sie leicht ver-
loren und führe unnötigerweise zu ner-
vigen Situationen. Freiwilligkeit ist bei
derartigen Supportleistungen das A und
O. „Das Ziel ist es, Lernen von Holakratie
zu dezentralisieren. Wir stellen Impulse
bereit, die sich alle selbst holen können.“
Und wo bleiben die Gefühle?
Auch Kristin Lutz ist Hypoport-Coach.
„Mich beschäftigen vor allem die mensch-
lichen Themen in der Holakratie“, sagt
die Berlinerin. Es heiße oft, Holakratie
sei kalt und emotionslos. Das müsse aber
nicht so sein, wenn man den Raum für
Emotionen schaffe. Vieles passiere dabei
über Sprache. „Es ist schwer, Spannungen
als solche überhaupt wahrzunehmen.
Wir haben oft eine Spannungstaubheit
– bis wir die Dinge benennen können“,
so Coach Kristin Lutz. Kontraproduktiv
sei dabei eine Art „Spannungstrittbrett-
fahrertum“: Jemand äußert ein Problem,
das andere für sich vereinnahmen – nach
dem Motto: „Das kenne ich auch!“. „Das
kann sich im Gespräch schnell hoch-
schaukeln. Oft fühlen wir uns dann bes-
ser, wie nach einem Telefonat mit der
besten Freundin, in dem wir mal unse-
ren Scheiß loswerden konnten. Lösen tut
das allerdings gar nichts.“ Dank strenger
Meetingregeln bleibe in der Holakratie die
Spannung jedoch beim Spannungsgeber:
Er kann Diskussionen und Kommentare
zulassen, aber auch ablehnen.
Um Spannungen besser zuzuordnen,
nutzt Kristin Lutz das Modell „Language
of Spaces“ von Christiane Seuhs-Schoel-
ler. Demnach bewegen Beschäftigte sich
in vier Dimensionen: dem konkreten
Arbeitsauftrag (Operational Space), dem
System Arbeit (Governance Space), dem
Beziehungsraum (Tribe Space) und dem
persönlichen Raum mit eigenen Bedürf-
nissen und Gefühlen (Individual Space).
„Eine Kernkompetenz für Holakratie ist
die Differenzierung und Integration die-
ser verschiedenen Räume. Uns muss be-
wusst werden, dass Spannungen meist
Anteile in allen vier Räumen haben. Erst
wenn uns das gelingt, können wir sie
Stephan Gawarecki.
Er ist Mitglied des
Vorstands und einer der Vorreiter von
Holakratie im Hypoport-Netzwerk.
Björn Schneider.
Er ist bei Hypoport
zuständig für Agilität und das Aufgaben
gebiet „People & Organisation“.
Fotos: Dawin Meckel