wirtschaft und weiterbildung 10/2017 - page 46

training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
10_2017
die verschiedenen Prozesse, die zwischen
Berater und Kunden ablaufen, konzen­
triert bleiben. Letzten Endes erfordert der
Umgang mit den neuen, komplexen und
chaotischen Problemen neue und inno-
vative Reaktionen des Beraters. Humble
Consulting fördert ein breiteres Verhal-
tensspektrum beim Berater, das darauf
basiert, dass der Berater in der Beziehung
offen, authentisch und innovativ ist.
Was sollte die Grundlage meines Han-
delns, meiner Reaktionsweise im Dialog
mit dem Kunden sein? Halte ich mich
einfach strikt an das Prinzip eines zu-
rückhaltenden, vorurteilslosen Fragens?
Platze ich mit allem heraus, was mir
gerade in den Sinn kommt? Gebe ich
Ratschläge, wenn ich die Antworten zu
kennen glaube? Offenbare ich, wie das
Projekt mir selbst helfen könnte und wie
es zu meinen Kompetenzen passt? Stelle
ich Fragen, die darauf basieren, dass ich
wissen muss, wie ich mit meinen Fähig-
keiten bei den Problemen des Kunden an-
setzen kann, oder lasse ich mich einfach
von meiner Neugier leiten und warte ab,
wo sie hinführt?
Alles kann zutreffend sein, je nach den
gerade gegebenen Umständen. Wenn das
Ziel ist, eine offene und vertrauensvolle
Beziehung aufzubauen, muss ich ver-
suchen, authentisch zu sein. Wenn ich
merke, dass etwas keinen Sinn ergibt oder
dass etwas von mir verlangt wird, das ich
nicht tun will, muss ich das sagen und
begründen, weil ich weiß, dass sich diese
Erklärung tatsächlich als Hilfe erweisen
kann, weil ich damit Themen anspreche,
an die der Kunde überhaupt noch nicht
gedacht hat. Wie wir an mehreren Fall-
beispielen sehen werden, war es meine
mangelnde Bereitschaft, das zu tun, was
der Kunde wollte, die sich als echte Hilfe
erwies.
Wo ist das Innovative bei dem Ganzen?
Ist das, was ich als Anpassungsbewegung
bezeichne, nicht einfach ein anderes Wort
für Intervention? Bei einigen Anpassungs-
bewegungen kann es sich tatsächlich um
die Standardinterventionen handeln,
wenn das Gespräch zu dieser Schluss-
folgerung führt, doch sehr häufig habe
ich festgestellt, dass die Anpassungsbe-
wegungen normalerweise kürzer und oft
kontraintuitiv sind. Wenn wir verändern,
wer im Raum ist, wenn wir verändern,
wer die Sinnstiftung übernimmt und
zudem das Wesen des Gesprächs verän-
dern – vom Problemlösen und Diskutie-
ren/Debattieren hin zum echten Dialog –,
dann fallen den Beteiligten alle möglichen
Anpassungsbewegungen ein, vor allem,
wenn wir uns daran erinnern, dass eine
Bewegung nicht zu einem Plan gehören
muss. Sie ist einfach eine Bewegung. Das
neue Modell für das Beratungsverhalten
hat eher etwas vom Improvisationsthea-
ter oder von einer Jazzband als von for-
malen Skripten, Regeln, standardisierten
Anleitungen oder Checklisten.
Dabei ist ein sehr wichtiges Element, dass
man das Wesen des Gesprächs so verän-
dert, dass es sich von einer Diskussion
und/oder Debatte in etwas verwandelt,
das eher einem Dialog am Lagerfeuer
gleicht. Dieses Element ist der vielleicht
größte Unterschied zu traditionellen Mo-
dellen, weil eine Level-2-Beziehung es
möglich macht, eine völlig andere Art
von Gespräch zu führen: Sie ermöglicht
eine gemeinsame dialogische Erkundung,
die darauf beruht, dass der Kunde ebenso
wie der Berater die Tatsache akzeptiert,
dass keiner von ihnen weiß, wo das Ge-
spräch hinführt oder welche Art von An-
passungsbewegungen ihnen in den Sinn
kommen wird, wenn sie die typische,
ziel- und wettbewerbsorientierte Prob-
lemlösungsdiskussion aufgeben, in die
man so häufig durch den Zeitdruck und
durch unsere begrenzten Modelle mög-
licher Gesprächsformen hineingetrieben
wird.
Dass man die richtigen Leute im Raum
versammelt und zu einer dialogischen
Erkundung des komplexen Chaos auf-
bricht, ist vielleicht das beste Modell für
die Zukunft effektiven Helfens. Als ich
über meine langjährigen Erfahrungen mit
Kunden nachdachte, wurde mir klar, dass
sich die Essenz dieses neuen Modells be-
reits bei vielen Fallgeschichten deutlich
abgezeichnet hat, aber dass ich das We-
sentliche jetzt zusammenfassen und für
andere beschreiben muss. Dieses neue
Modell sagt mir nicht, was ich tun soll,
aber es bietet mir einen Denkansatz für
das, was beim Kunden geschieht, und für
die Einstellungen und Fähigkeiten, die ich
entwickeln muss, um ihm wirklich helfen
zu können.
Zehn Thesen: Wie alles
zusammenpasst
Ich nenne das Humble Consulting, also
eine von Demut oder Bescheidenheit ge-
prägte Beratung, weil ich großen Respekt
vor der Komplexität der Probleme habe
ebenso wie vor den Schwierigkeiten, mit
denen Kunden bei ihren Bemühungen um
Fortschritte konfrontiert werden. Zudem
habe ich erkannt, dass diese Kombination
neuer Elemente eine innere Logik hat, die
sich am besten durch die folgenden zehn
Thesen erfassen lässt:
1.
Um wirklich zu helfen, muss man das
wahre Problem ermitteln, also herausfin-
den, was den Kunden tatsächlich beun-
ruhigt.
2.
Um zu ermitteln, was den Kunden tat-
sächlich beunruhigt, muss man für eine
offene und vertrauensvolle Kommunika-
tion sorgen.
3.
Um eine vertrauensvolle Kommunika-
tion zu ermöglichen, muss man eine per-
sönliche Level-2-Arbeitsbeziehung zum
Kunden aufbauen, die über die förmli-
che professionelle Level-1-Beziehung der
meisten Hilfssituationen hinausgeht.
4.
Um eine solche persönliche Level-
2-Beziehung aufzubauen, muss man die
Beziehung bis zu einem gewissen Grad
personalisieren.
R
Edgar H. Schein.
Im Juni 2013
hielt Schein einen
Humble-Consulting-
Workshop im IBM
Research Center in
Zürich ab.
Foto: Marcel Bergert/IBM
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