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wirtschaft + weiterbildung
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sein aktuelles Problem beschreibt. Bei der
zweiten Variante muss ich darauf achten
und neugierig darauf sein, was den Spre-
cher tatsächlich bewegt, wenn er das Pro-
blem oder die Situation erklärt. Zum Bei-
spiel: Eine potenzielle Kundin ruft an und
sagt „Ich mache mir Sorgen, weil meine
Mitarbeiter Engagement vermissen las-
sen. Könnten Sie mir helfen, eine Kultur
des Engagements zu entwickeln?“
Empathieform 1 würde darin bestehen,
genauer zu erforschen, was die Kundin
mit Engagement und Kultur meint, indem
ich sie um Beispiele bitte. Empathieform
2 wäre die Frage: „Was beunruhigt Sie?
Warum machen Sie sich Sorgen um diese
Sache?“ Wir können beim Zuhören auf
beides achten, aber irgendwann kommt
der Punkt, an dem wir uns entscheiden
müssen, ob wir unserer Neugier auf den
Inhalt und auf die Situation nachgeben
wollen oder unserer Neugier auf den An-
rufer.
In beiden Fällen müssen wir lernen, dass
uns eine große Auswahl an möglichen
Fragen und Reaktionen zur Verfügung
steht und dass es einen Unterschied
macht, für welche Art von Fragen und
Reaktionen wir uns entscheiden. In ähn-
licher Weise haben wir auch eine echte
Wahl, wenn es darum geht, wie stark
wir die Situation durch die Fragen, die
wir stellen, oder durch die Dinge, die wir
über uns selbst preisgeben, personali-
sieren. Der gemeinsame Nenner all die-
ser Aspekte ist die Personalisierung, die
einer genaueren Betrachtung bedarf, weil
sie die Rolle des Beratenden/Helfenden
grundlegend verändert.
Eine einfühlsamere Rolle für
die Berater
Herkömmlicherweise bedeutet das Wort
Beratung, dass jemand in der Rolle des
Experten Hilfe leistet, indem er fachkun-
dige Informationen, Dienstleistungen, Di-
agnosen und Rezepte in Form von Emp-
fehlungen liefert, und dabei – vor allem
– professionelle Distanz wahrt. Auch
wenn diese Rolle vielleicht weiterhin bei
klar abgegrenzten technischen Proble-
men funktioniert, erweist sie sich doch
als immer weniger geeignet, weil sich
das Problem nicht mehr so eindeutig de-
finieren lässt, dass der Helfende erkennen
könnte, welches Handeln wirklich hilf-
reich wäre. In der neuen Humble-Consul-
ting-Rolle besteht das Hauptziel des Bera-
tenden darin, den Kunden zu befähigen,
selbst herauszufinden und zu verstehen,
was seine eigentliche Sorge ist und was
ihn tatsächlich innerlich beschäftigt. Der
Berater muss schon bei den ersten Fragen
nach dem Geschehen und nach der Sorge
des Kunden zu dessen Partner und Helfer
werden.
Vor Kurzem beriet ich per Videokonfe-
renz eine Gruppe von Führungskräften
aus fünf Organisationen, die sich kurz
zuvor zusammengeschlossen hatten, und
wurde gefragt, wie die fünf Gruppen jetzt
zusammenkommen könnten, um ein ge-
meinsames Marketingprogramm zu ent-
wickeln und die Öffentlichkeit über die
neuen zusammengelegten Dienstleistun-
gen zu informieren. Anstatt so etwas wie
Teamaufbau für die fünf Gruppen vorzu-
schlagen, stellte ich Fragen danach, worin
diese Dienstleistungen bestanden (Alpha-
betisierungsprogramme, Beratungsstellen
für Leseförderung), was die Gründe für
den Zusammenschluss waren und was
sie an der Entwicklung eines Marketing-
programms gehindert hatte.
Im Laufe dieses Prozesses wurde mir all-
mählich klar, dass die eigentliche Sorge
nicht war, ob und wie sie Gemeinsam-
keiten finden konnten, sondern dass jede
Gruppe ihre einzigartige Fähigkeit ver-
lieren würde. Was wir schon bei diesem
ersten Telefonat gemeinsam erarbeiteten,
war die notwendige Anpassungsbewe-
gung, die sie als Erstes vollziehen muss-
ten. Diese erste Annäherung bestand
darin, sich gegenseitig bei der konkreten
Arbeit zu beobachten und dabei heraus-
zufinden, was die unverwechselbare Fä-
higkeit der einzelnen Gruppen war und
wie diese Fähigkeit zu den Bedürfnissen
der Gemeinschaft passen könnte. Sie
brauchten kein gemeinsames Marketing-
programm; sie mussten sich zunächst auf
einer grundlegenderen, persönlicheren
Ebene kennenlernen.
Um echte Informationen vom Kunden zu
erhalten und sie verarbeiten zu können,
muss der Berater mit dem Klienten auf
einer persönlicheren Ebene, dem Level 2,
arbeiten. Damit das funktioniert, braucht
der Berater die paradoxe Fähigkeit, sich in
den Klienten und dessen Situation einzu-
fühlen, ohne sich jedoch vom Inhalt ver-
führen zu lassen; vielmehr muss er auf
Buchtipp.
Ein Organisationsberater
ist kein Hellseher, der die passenden
Interventionen einfach so mitbringt.
Er muss neugierig und vor allem vor-
urteilslos das Klientensystem befra-
gen, um anschließend belastbare
Hypothesen zu bilden. Jede Methode
hat ihre Grenzen: Humble Consulting
erfasst nur, was dem Gesprächspart-
ner bewusst ist und worüber er etwas
zu sagen weiß. Schein veröffentlichte
sein Humble-Consulting-Buch 2016
in den USA. Es ist jetzt in hervorra-
gender Übersetzung bei Carl-Auer erschienen. Dieser Arti-
kel ist eine für diese Zeitschrift bearbeitete, stark gekürzte
Fassung des zweiten Kapitels.
Edgar Schein:
Humble Consulting – Die Kunst des vorur-
teilslosen Beratens, Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2017,
187 Seiten, 39 Euro.
Scheins großes Vermächtnis
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