wirtschaft + weiterbildung
05_2017
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übersieht, dass selbst bei großen Verän-
derungen vieles gleichbleibt. Ein Großteil
organisationaler Kompetenzen liegt in
Prozessen und Prozeduren, die über Jahr-
zehnte verfeinert wurden. Selbst wenn es
uncool erscheinen mag, steckt in vielen
Abläufen eine Funktionalität, die (auch)
ehrlich anzuerkennen ist. Auf dem Boden
welcher Kernkompetenzen wollen wir
agiler arbeiten? Was darf nicht zerstört
werden durch noch so agile Methoden?
Was muss beibehalten werden, um agil
zu sein?
Rolle – Organisation
Viele der diskutierten Ansätze setzen
stark auf Rollendefinitionen. Die Ansätze
(Holacracy zuvorderst) ersetzen viele per-
sonenunabhängige Organisationsprinzi
pien durch Rollenvorgaben. Wenn aber
„Organisation“ durch „Rolle“ ersetzt wird
und zugleich Unternehmen wie auch An-
forderungen wachsen, dann führt dieses
Vorgehen zu einem für Einzelne kaum zu
bewältigenden Anstieg der Rollen. Berich-
tet wird in einigen Fallstudien von 15 und
mehr Rollen pro Person, was diese kom-
plett überfordert. Auch hier zeigt sich,
dass Personenunabhängigkeit als Prinzip
nicht zu vernachlässigen und gerade im
Interesse von Einzelpersonen ist.
Die Liste könnte noch verlängert werden,
sie reicht aber, um zu zeigen, dass alle
„einseitigen“ Ansätze auf Dauer kaum
bestehen können. Hier ist der systemi-
sche Leitspruch zu beherzigen: „Ambiva-
lenzfreiheit und Leben sind nicht mitein-
ander vereinbar.“ Vor allem in Fragen der
Umsetzung und Implementierung wird
Einseitigkeit zum „Pferdefuß“. Gerade
mit dem Blick auf gewachsene Kulturen
in Organisationen werden all jene, die nur
die sinnhafte, selbstbestimmte, agile Seite
betonen (und die andere Seite abwerten),
Widerstände erzeugen und insgesamt
eine Klima des Kampfes „Neu“ gegen
„Alt“ erzeugen, in dem eher beide Seiten
verlieren.
Intelligent sein wie ein Igel:
Altes und Neues verknüpfen
Was hilft? Es hilft ein Intelligenzbegriff,
der die zwei Seiten integriert. Karl E.
Weick nennt dies „The attitude of wis-
dom“. Wer weise ist, ein wenig Erfahrung
in der Arbeit mit Organisationen, aber
vor allem Organisationstheorie mitbringt,
wird sehen, dass Organisationen ambiva-
lente Prinzipien vereinigen müssen. Dies
war schon beim Wasserbau in Ägypten
vor Jahrtausenden so, wie Max Weber
berichtet hat, dies zieht sich durch die
letzen fünf Jahrzehnte Organisationsfor-
schung und ist auch durch die aktuelle
Debatte beobachtbar.
Wer einmal in Buxtehude gewohnt hat,
der kennt die Fabel vom Hasen und vom
Igel. Beide wetten, wer schneller laufen
kann. Der siegessichere Hase verliert
letztlich nicht nur die Wette, sondern
auch das Leben, da der Igel eine List an-
wendet. Dieser rennt nur kurz los und
stoppt ab, während der Hase siegessicher
vorneweg läuft. Kurz bevor der Hase am
Ende der Strecke ankommt, springt die
Frau des Igels, die sich in einer Furche
versteckt hatte, am Ziel auf und ruft: „Ick
bün all dor!“. Der Hase muss denken, er
sei zu spät. Dieses Spiel wiederholt sich
viele Male, bis der Hase vor Erschöpfung
stirbt. Wer immerfort so schnell wie mög-
lich neuen Ansätzen hinterherhechelt,
riskiert mit dieser „Hasenstrategie“ die
totale Erschöpfung. Wer auf Theorie
setzt, der wendet eine „Igelstrategie“ an.
Er durchschaut das Spiel und kann mit
Theorie darauf vertrauen, selbst die ver-
meintlich neuesten Phänomene im Kon-
text grundlegender Konzepte zu betrach-
ten. Mit einer „Igelstrategie“ kann man
Möglichkeiten erkennen, alte und neue
Ansätze intelligent zu verknüpfen und
einzusetzen.
Torsten Groth
Torsten Groth,
Dipl.-Soz.-Wiss.,
ist selbstständiger
Organisationsbe-
rater, Buchautor
und Dozent am Wittener Institut für
Familienunternehmen (WIFU) der Uni-
versität Witten/Herdecke. Außerdem
arbeitet er als Trainer zu Anwendungs-
fragen der Systemtheorie für Simon,
Weber and Friends in Heidelberg.
Groth – Consulting
Rudolf-Schmitz-Weg-39
48165 Münster
AUTOR
Trendbuch II.
Der ehemalige McKin-
sey-Berater Laloux, ein Belgier,
war entsetzt über das Ausmaß an
Sinnleere, das er bei vielen Ange-
stellten beobachten musste. Sein
alternatives Konzept: ein starker (!)
Chef macht alles neu: 1. Es gibt nur
kleine, autonome Teams, die sich
gegenseitig abstimmen. 2. Es gibt
neue Formen der Führung (selbst-
gesteuertes Anreizsystem/Vertrauensvorschuss statt Kon-
trolle/sorgfältigere Auswahl neuer Mitarbeiter). 3. Konflikt-
bearbeitung wird zur Schlüsselkompetenz. 4. Unternehmen
bieten Sinn und fördern das Gemeinwohl.
Frederic Laloux:
Reinventing Organizations: Leitfaden zur
Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit,
Franz Vahlen, München 2015, 356 Seiten, 39,80 Euro
Mehr Sinn bei der Arbeit?