WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 5/2017 - page 18

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wirtschaft + weiterbildung
05_2017
auf, die seit zwei Jahren in aller Munde
sind. Von einem Amazon-Verkaufsrang
kann man zwar nicht auf die konkreten
Absatzzahlen schließen, aber alles, was
besser als Rang 100 ist, verkauft sich laut
Insidern sehr gut.
Doch – unter uns – Groth würde sich
eher die Hand abhacken, als seine ge-
dankliche Heimat auf 66 streng zu befol-
gende Vorschriften einzudampfen. Für
ihn gibt es laut Vorwort nur ein wahrhaft
systemisches Gebot: „Richte dich nach
Geboten, aber befolge sie nicht unbe-
dingt.“ Man darf also davon ausgehen,
dass der Griff zum Wort „Gebot“ schlicht
ironisch, wenn nicht gar kokett gemeint
ist. In Wahrheit dürfte sich Groth wie
vermutlich alle Systemiker gegen die
Vorstellung wehren, dass derjenige, der
Gebote einhält, automatisch mit Erfolg
belohnt wird. Die Aussage: „Mach es so
und es gelingt“, wird einem Systemiker
nie über die Lippen kommen. Wer syste-
misch denkt, weiß, dass Systeme einer
unergründlichen Eigenlogik folgen und
hat demzufolge auch den Glauben an die
Steuerbarkeit von Veränderungen aufge-
geben.
Professor Fritz B. Simon, der berühmte
systemische Vordenker, hat übrigens sein
im Jahr 2006 erschienenes Buch „Einfüh-
rung in Systemtheorie und Konstruktivis-
mus“ in Form von zehn Geboten zusam-
mengefasst. Auch damals musste man
sich als systemischer Autor für das Wort
„Gebot“ rechtfertigen. Simon erklärte,
seine Gebote seien nur ein roter Faden,
den man in die Praxis mitnehmen könne.
Sie seien nur als „Denkanweisungen“,
aber nicht als „Handlungsanweisungen“
zu verstehen. Rezepte gebe es allenfalls
auf einer rein formalen Ebene, so Simon
beschwichtigend. Jeder müsse von Fall
zu Fall sehen, wie er das Formale mit In-
halt fülle.
Groths 66 Gebote sind laut Vorwort zu
seinem Buch wie bei seinem Lehrmeister
Simon nur „Orientierungsangebote“, um
den komplexen Alltag von Führungskräf-
ten oder Beratern zu bewältigen. Jedes
einzelne Gebot steht zwar auf einer aus-
gereiften system- und organisationsthe-
oretischen Grundlage. Und doch soll es
nicht mehr sein als ein „Nadelstich“, der
einen daran erinnert, dass jede Alltags­
situation mit systemischem Denken
„gegen den Strich gebürstet“ werden
kann. Mit Geboten ist systemisch gese-
hen also kein Wahrheitsanspruch ver-
knüpft. Das macht eine Führungskraft
oder einen Berater frei, sich bei jedem
Problem zu fragen, ob es gerade hilfreich
ist, in einer bestimmten Art und Weise
zu denken oder nicht. Obwohl es „Ge-
bote“ gibt, muss also jeder im Einzelfall
selbst über deren Gültigkeit entscheiden.
04.
Betrachte
Moden
als Moden.
Was andere machen, muss
nicht sinnvoll sein.
05.
Sei
Igel
und kein totgehetzter
Hase. Folge einer grundlegen-
den Theorie und keiner Mode.
06.
„Drop your tools“:Hinterfrage
deine Werkzeuge und vermeide
Lieblingstools.
R
grund verständlich. Regeln sollten eher
den Charakter von Richtlinien haben,
die begründete Ausnahmen zulassen, so
die Vertreter des systemischen Ansatzes.
Schließlich gebe es sogar Situationen,
in denen man selbst „göttliche“ Gebote
brechen müsse. Viel wichtiger als Gebote
sei eine innere Haltung, aus der heraus
dann situationsbezogen sinnvoll gehan-
delt werde.
Andererseits dürfte es dem systemischen
Carl Auer Verlag nicht verborgen ge-
blieben sein, dass viele Führungskräfte,
aber auch Trainer und Berater von Zeit-
schriften und Büchern genauso wie von
Tagungen und Seminaren erwarten, dass
ihnen praxisnahe Arbeitshilfen im Sinne
von Tipps und Tricks, Checklisten und
„Kochrezepten“ geliefert werden. Es gibt
durchaus eine Nachfrage nach Geboten
– insbesondere wenn sie in Form von
Tipps daher kommen, die verführerisch
versprechen, das Arbeiten zu erleichtern.
Die Ironie hinter dem griffigen
Buchtitel
Es könnte also eine Marketingidee des
Verlags gewesen sein, den „Machern“
dieser Welt etwas anzubieten, das ein
komplexes Gedankengebäude auf 66 Ge-
bote reduziert und die lästige Diskussion
abschließt, was denn nun „systemisch“
sei. Wenn es diese Idee wirklich gab,
war sie erfolgreich. Groths neues Buch,
das am 8. März 2017 erschien, lag Ende
April bei Amazon auf Rang sieben der
Bestenliste der meistverkauften Bücher
im Themengebiet „Organisationsma-
nagement“. Es tauchte gleich hinter den
Büchern so trendiger Autoren wie Frede-
ric Laloux („Reinventing Organizations“)
oder Brian J. Robertson („Holacracy“)
Buchtipp:
Torsten Groth: „66 Gebote
systemischen Denkens und Handelns in
Management und Beratung“, Carl Auer,
Heidelberg 2017, 176 Seiten, 29,95 Euro.
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