WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 5/2017 - page 20

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wirtschaft + weiterbildung
05_2017
kannst. Mache also Nichtwissen zu dei-
nem Partner.“ Groth fordert vor diesem
Hintergrund dazu auf, frühzeitig Inter-
ventionen vorzunehmen – aber nicht, um
das System zu steuern, sondern um seine
Reaktion zu beobachten und so ein Ge-
spür dafür zu bekommen, was passende
Interventionen sein könnten. „Willst du
ein System kennenlernen, dann interve-
niere“, betont Groth. Interventionen trü-
gen auf diese Weise zu einer Ko-Kreation
bei. Wer so vorgehe, der mache sein
Nichtwissen zu seinem Partner. Nichtwis-
sen ist im systemischen Sinne kein Makel,
sondern ein ständiger Begleiter.
Zehn nützliche Interventions-
strategien und -prinzipien
Wer sich als Praktiker sieht, startet die
Lektüre des 66-Gebote-Buchs am besten
mit dem sechsten Kapitel, das unter der
Überschrift „Zehn Gebote zu nützlichen
Interventionsstrategien und Interventi-
onsprinzipien“ steht (Gebot 51 bis 60).
Diese Gebote seien hier im Sinne eines
Appetithappens kurz zusammengefasst:
Stehen Interventionen an, ist es sinnvoll,
mit der Frage zu starten: „Was passiert,
wenn nichts passiert?“. Diese Frage (51.
Gebot) hat folgenden Hintergrund: Sozi-
ale Systeme sind als Systeme zu betrach-
ten, in denen Prozesse auf eine nicht zu-
fällige Weise ablaufen und immer weiter-
laufen. Kaum eine andere Frage bringt die
Erwartungen über den Lauf der Dinge so
sehr auf den Punkt wie die Frage „Was
passiert, wenn nichts passiert?“ Laut
Groth ist das die entscheidende Frage, mit
der man zum Systemiker wird! Das 52.
Gebot lautet „Stelle Fragen“. Da zum sy-
stemischen Fragen (zirkulär, nach Unter-
schieden, nach beobachtbaren Ereignis-
sen, nach sich wiederholenden Abfolgen,
…) schon viel geschrieben wurde, wird
dieses Gebot im Buch nur kurz darge-
stellt. Groths liebste „Frage“: „Wie inte-
ressant. Ach, erzählen Sie mal!“
Das 53. Gebot empfiehlt: „Kläre den Kon-
text“. Kontextklärung ist Erwartungsklä-
rung („Was wäre ein gutes Ergebnis der
heutigen Sitzung?“) und die ist Bezie-
hungsklärung („Was soll heute anders
werden als letztes Mal?“). Unterbleibt
dies, so steigt das Risiko des Scheiterns.
Das 54. Gebot schlägt vor: „Betrachte
Geschichten als Informationsquellen“.
Hochverdichtet erfährt man anhand we-
niger Geschichten oft weit mehr über die
Stärken und Schwächen einer Organisa-
tion, den Chef oder die Mitarbeiter, als
wenn man aufwendige Interviews geführt
hätte. Das 55. Gebot lautet: „Trenne Be-
schreibungen, Erklärungen und Bewer-
tungen“. Komplexes wird im Laufe der
Zeit verdichtet zu Aussagen wie: Die Füh-
rungskräfte führen nicht! Die Mitarbeiter
sind faul! Die von der Zentrale haben
keine Ahnung! Beraterisch lässt sich mit
so „hochverdichteten“ Beobachtungen
relativ wenig anfangen. Es gilt auf der
Beschreibungsebene nachzuhaken: Was
machen Führungskräfte, die nicht führen?
Auf der Erklärungsebene geht es darum,
alternative (systemische) Erklärungsan-
sätze zu testen. Und auf der Ebene der
Bewertungen geht es darum, positive
oder negative Bewertungen gezielt zu
vertauschen.
Wenn es um Interventionsstrategien geht,
darf das Stichwort „Muster“ nicht fehlen.
Das 56. Gebot lautet: „Beobachte und
verändere Muster“. Tritt ein Verhalten
oder eine besondere Eigenart mehrfach
auf, dann leuchten die Augen des Syste-
mikers und er kann folgende drei Fragen
nicht mehr zurückhalten: Wie kann man
das Muster beschreiben? Wie kann man
sich das Auftreten des Musters erklären?
Wie sollte man das Muster bewerten? Um
die Besonderheiten eines Musters zu er-
fassen, lohnt die Frage, was jeweils getan
oder unterlassen werden muss, um ein
Muster am Leben zu halten.
Unbedingt wundern sollte sich ein Syste-
miker über den Status quo, der längere
Zeit aufrechterhalten wird (57. Gebot). Es
gilt: Dauerhaftes muss erklärt werden. In
sozialen Systemen bleiben Probleme nur
dann bestehen, wenn sie jeden Tag neu
erzeugt werden. Wichtig ist auch, zwi-
schen dem Interventionstyp „Störung“
und „Etablierung eines neuen Musters“
zu unterscheiden (58. Gebot). Es lassen
sich grundsätzlich zwei Typen der In-
tervention unterscheiden: die Störung
eines problematischen Musters und die
Etablierung eines neuen Musters. Wird
etwas getan, was man besser unterlas-
sen sollte, dann ist die Intervention als
Störung, also als Verhinderung, anzule-
gen. Wird etwas unterlassen, was besser
getan werden sollte, dann ist die Inter-
vention als Anregung zur Etablierung
eines neuen Musters anzulegen. Unter
„Verflüssigung“ (59. Gebot) ist eine
Strategie zu verstehen, aus vermeintlich
schicksalhaften Umständen veränderbare
Verhaltensweisen zu machen: 1. Über-
führe die vermeintlich festen Zustände
in beobachtbare Verhaltensweisen. 2.
Stelle das Verhalten in einen sachlichen,
sozialen und zeitlichen Kontext. 3. Was
ist das „Gute im Schlechten“? Das letzte
(60.) Gebot zum Thema „nützliche Inter-
ventionen“ lautet: „Mache Opfer zu Tä-
tern“. Probleme werden in der Regel so
definiert, dass andere schuldig sind und
man selbst so gut wie keinen Eigenanteil
hat. Nachteil: Man legt das eigene Glück
in die Hände anderer. Erst wenn ein Ei-
genanteil am Problem deutlich wird, wird
einsehbar, wo eigene Veränderungsmög-
lichkeiten liegen könnten. Gerade die
Führung sollte sich immer fragen, wie sie
die Phänomene mit hervorruft, die sie im
eigenen Unternehmen beklagt. Oft hilft
laut Groth die Frage: „Was müssten Sie
tun, damit der andere das veränderte Ver-
halten zeigt, das Sie sehen wollen?“
Fazit: Groth als Gladwell
Bereits 1996 veröffentlichte Groth das
Buch „Wie systemtheoretisch ist syste-
mische Organisationsberatung?“. Er ent-
wickelte darin in der Rolle des Vordenkers
neue Beratungskonzepte im Kontext der
Luhmannschen Systemtheorie. In sei-
nem neuesten 66-Gebote-Buch schlüpft
er dagegen ganz in die Rolle des Aufklä-
rers und Wissenschaftsjournalisten à la
Malcolm Gladwell. Groth fasst prägnant
zusammen, was systemisches Denken
bedeutet. Dabei wird er Soziologen wie
Psychologen, Systemtheoretikern wie
praktischen Systemikern gerecht. Mehr
gemeinsamer Nenner geht nicht. Und für
alle, die sich bislang nur oberflächlich mit
dem Thema beschäftigt haben (sinnfreier
Anfängerspruch: „Systemisch heißt, alles
hängt mit allem zusammen“), liefert er
eine mit witzigen Illustrationen angerei-
cherte Offenbarung des Systemischen –
zum Beispiel zeigt er, wie zentral Kom-
munikation für jedes System ist. Mehr
Denkanstoß geht nicht.
Martin Pichler
R
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