wirtschaft + weiterbildung
05_2017
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Ein Beispiel: Grundsätzlich macht es aus
systemischer Sicht keinen Sinn, wenn
ein Coach dem Coachee Ratschläge gibt.
Es kann trotzdem Situationen geben, in
denen ein Coach sein Expertenwissen in
Form konkreter Vorschläge in das Coa-
ching-Gespräch einbringt.
Das ist nicht verboten, weil es keine Ver-
bote gibt. Jede Intervention sollte aber
systemisch begründbar und sinnvoll er-
scheinen. Salopp formuliert kommt es
nicht darauf an, ob ein Berater sich an
Gebote hält, sondern ob er möglichst
genau weiß, aus welchen Gründen er wie
handelt und aus welcher inneren Haltung
heraus er interveniert. Systemiker greifen
zur Verdeutlichung des Themas „Hal-
tung“ gern zu folgendem Beispiel: Nie-
mand wird zum Beispiel zu einem guten
Koch, weil er sich sklavisch an Rezepte
hält, sondern weil er eine innere Vorstel-
lung davon hat, was in welcher Kombina-
tion sehr gut schmeckt.
66 Gebote in sieben Kapitel
gegliedert
Beim Schreiben eines Buchs hat die Prä-
sentation von Geboten einen großen Vor-
teil. Der Autor kann viele kleine, in sich
abgeschlossene Häppchen schreiben,
ohne sich über einen langen Fließtext mit
einem Spannungsbogen und mit Über-
leitungen von Kapitel zu Kapitel Gedan-
ken zu machen. Groth hat sich immerhin
die Mühe gemacht, die Gebote in eine
sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Zwar
kann man mit Gewinn „querfeldein“
lesen, aber insbesondere jene, die daran
interessiert sind, wie die Systemtheorie
eines Niklas Luhmann (Vertreter der sozi-
ologischen Systemtheorie, der von 1927
bis 1998 lebte) das Know-how der syste-
mischen Praktiker beeinflusst hat, sollten
der Reihe nach vorgehen und sich an fol-
gende Gliederung halten:
1. Kapitel:
Zehn Gebote zur systemischen
Erkenntnismethode (zum Beispiel das 2.
Gebot: „Bedenke: Alles, was gesagt wird,
wird von einem Beobachter gesagt“)
2. Kapitel:
Zehn Gebote zum Denken in
sozialen Systemen (zum Beispiel das
19. Gebot: „Glaube nicht, dass du Sys-
teme küssen kannst, aber beobachte
Verhalten im Systemkontext“)
3. Kapitel:
Zehn Gebote zur Organisation
(zum Beispiel das 24. Gebot: „Lenke
deine Aufmerksamkeit auf Entschei-
dungsprämissen“)
4. Kapitel:
Zehn Gebote zu Management
und Führung (zum Beispiel das 37.
Gebot: „Beachte genau die Paradoxien
von Führung“)
5. Kapitel:
Zehn Gebote zur Interventions-
theorie (zum Beispiel das 50. Gebot:
„Sei und bleibe als Systemiker Anwalt
der Ambivalenz“)
6. Kapitel:
Zehn Gebote zu nützlichen
Interventionsstrategien und Interven-
tionsprinzipien (zum Beispiel das 56.
Gebot: „Beobachte Muster und verän-
dere Muster“)
7. Kapitel:
Sechs Gebote zu den grundle-
genden systemischen Ideen und Prin-
zipien (zum Beispiel das 62. Gebot:
„Denke nicht, dass du Systeme verste-
hen kannst, mache also Nichtwissen
zu deinem Partner“).
Ja, es gibt sie, die sozialen
Systeme
Wer sich durch das Buch treiben lassen
will, sollte sich fragen, was ein soziales
System überhaupt ist. In Luhmanns
Hauptwerk „Soziale Systeme“ steht der
Satz: „Die folgenden Überlegungen gehen
davon aus, dass es soziale Systeme gibt.“
Groth macht diesen Satz zu seinem 11.
Gebot („Gehe davon aus, dass es sozi-
ale Systeme gibt“). Wenn das extra be-
tont werden muss, dann liegt das daran,
dass man Systeme nicht sehen kann und
dass man sich mit dem Gedanken erst an-
freunden muss, dass es neben den Hand-
lungen und Motiven einer Einzelperson
auch noch die Strukturen eines Systems
(Regeln, Programme, Erwartungen) und
dann auch noch Kommunikationsmuster
als wesentliche Erklärungsansätze für be-
obachtbares Verhalten gibt. Womöglich
liegt die größte Wirkung des Systemden-
kens darin, dass das übliche Zurechnen
von (zum Beispiel) Erfolg und Misserfolg
auf einzelne Personen und ihre Motive
oder Charaktereigenschaften durchkreuzt
wird. Der soziale Kontext, also „das Sys-
tem“, beeinflussen das Denken und Han-
deln maßgeblich.
Ein oft zitierter Spruch in der Systemiker-
Szene lautet: „You can’t kiss a system“.
Groth macht ihn zu seinem 19. Gebot,
weil er noch einmal ausdrücklich auf die
„Unsichtbarkeit“ von Systemen hinwei-
sen will. Nur die Handlungs- und Verhal-
tensweisen der Mitglieder eines Systems
lassen Rückschlüsse auf das (hintergrün-
dig wirkende) System zu. Person A han-
delt auf eine bestimmte Art und Weise
(und unterlässt alles andere, was sie
auch tun könnte), Person B handelt (und
unterlässt alles andere). Man sieht also
keine Systeme, aber man sieht, was ein
System bewirkt, indem es Einfluss auf die
Handlungen der Beteiligten nimmt.
Mit seinem bemerkenswerten 62. Gebot
legt Groth noch einmal nach: „Denke
nicht, dass du ein System verstehen
R
Torsten Groth.
Der Berater, Ausbilder und Autor gilt in der systemischen Szene als
sehr gut vernetzt. Das Foto zeigt ihn im Kreis von MItstreitern, mit denen er die
Alumni-Treffen von Simon, Weber and Friends organisiert (von links): Stefan Gün-
ther, Torsten Groth, Christina Grubendorfer, Fritz B. Simon und Gerhard P. Krejci.
Foto: Pichler