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wirtschaft + weiterbildung
05_2017
titelthema
mentieren, die also kontextfrei festschrei-
ben, wie eine Organisation zu gestalten
ist, sind zu relativieren mit einem Ansatz
und Vorgehen, den er verhaltenswissen-
schaftlich nennt. Entscheidend ist nicht
die Stimmigkeit des Konzepts, entschei-
dend ist, wie es gelingt, in Abhängigkeit
von den Besonderheiten jedes einzelnen
Unternehmens zu schauen, was passt
und angemessen erscheint. Mit Herbert
Simons Argumentation ist eine Doppel-
spur gelegt, die es lohnt, noch ein wenig
zu verfolgen.
Wer sich mit systemischer Organisations-
theorie, vor allem mit derjenigen von Ni-
klas Luhmann auskennt, der wird schon
das Argument gelesen haben, dass Orga-
nisationen um die Bewältigung bestimm-
ter Paradoxien „gebaut“ sind. Die von
Herbert Simon beobachtete Praxis, dass
jeweils einzelne, sich widersprechende
Erfolgsfaktoren hervorgehoben werden,
kann mit einer solchen systemischen
Sicht integriert werden. Organisationen
müssen permanent widersprüchliche An-
forderungen vereinen, sie sind als soziale
Systeme auf Widerspruchsbearbeitung
spezialisiert. Deshalb ist es nicht stim-
mig, beispielsweise Zentralisierung und
Dezentralisierung gegeneinander auszu-
spielen. Organisationen müssen perma-
nent zentralisieren und dezentralisieren.
Der Erfolg der Organisation bemisst sich
also nicht am Einen oder am Anderen,
sondern an der Art und Weise, wie eine
Organisation beide Prinzipien vereint.
Empirisch und auch praktisch bietet es
sich an, alle Organisationsfragen als Ba-
lancierung ambivalenter Prinzipien zu
betrachten. Die Stimmigkeit aller Orga-
nisations- und Führungsansätze bemisst
sich, zumindest in der systemischen Be-
wertung, am Umgang mit gleichzeitig
vorherrschenden Gegensätzen:
Selbstbestimmung –
Fremdbestimmung
Gut hört es sich natürlich an, wenn ein
Konzept mehr Selbstbestimmung ver-
spricht. Der Einzelne kann sich entspre-
chend seinen Neigungen und Fähigkeiten
zum Wohle der gesamten Organisation
wie auch zum eigenen Wohle einbringen.
Übersehen wird jedoch, dass Fremdbe-
stimmung erstens eine entlastende Funk-
tion für die Mitarbeiter hat und vor allem
dafür sorgt, dass Dinge erledigt werden,
die auch dann getan werden müssen,
wenn niemand, einfach gesprochen, dazu
Lust hat. Wird das Prinzip „Lust“ hervor-
gehoben, dann führt dies – wie in eini-
gen Internetunternehmen zu beobach-
ten – zu einer Anspruchskultur, die aus
Arbeitgebersicht nicht mehr tragfähig ist.
Die Frage ist also: Wie und wo herrscht
Selbstbestimmung und wo belassen wir
es aus guten Gründen bei Fremdbestim-
mung?
Demokratie – Hierarchie
Wer kann schon gegen Demokratie
sein, die große Errungenschaft der Mo-
derne. Die Vorteile liegen scheinbar auf
der Hand. Zu sehen ist aber, dass fast
alle Demokratisierungsbemühungen der
70er- und 80er-Jahre in Organisationen
gescheitert sind. Der Kommunikations-
und Abstimmungsbedarf und letztlich
auch die Entscheidungsdauer steigern
sich immens in der Demokratie, während
die Hierarchie schnelle Entscheidungen
ermöglicht und einen klaren Fokus der
Aufmerksamkeit vorgibt. Wie also lassen
sich die Vorteile demokratischer und hi-
erarchischer Entscheidungsformen kom-
binieren? Was gilt wann? Von welcher
Entscheidungsregel lassen wir uns fremd-
bestimmen?
Sinnhaftigkeit – Indifferenz
Vor allem der Berater Frederic Laloux
macht sich dafür stark, dass Organisati-
onen so gestaltet werden, dass die Mitar-
beiter einen höheren individuellen Sinn
mit ihrer Arbeit verknüpfen und insge-
samt die Arbeit mit einem höheren „evo-
lutionären Sinn“ ausgestattet sind. Orga-
nisationen leben aber auch von dem, was
man in der Forschung „Indifferenzzone“
nennt. Hiermit ist der Bereich benannt,
in dem Mitarbeiter bereit sind, Dinge zu
erledigen, auch wenn sie nicht unbedingt
selbst dahinterstehen (andere jedoch, wo-
möglich weil sie eine andere Perspektive
auf den Markt und Kunden haben, erken-
nen den Nutzen ...). Sinnhaftigkeit und
Indifferenz sind also keine Gegensätze.
Sie sind, damit ein Unternehmen über-
lebt, zu kombinieren.
Agilität – Beständigkeit
Ist es nicht klar, dass man in Zeiten der
Beschleunigung agiler arbeiten muss?
Wer schnelle Anpassungen propagiert,
R
Trendbuch I.
Holacracy (altgrie-
chisch: Herrschaft für alle) wurde
von Brian Robertson, einem US-Infor-
matiker, entwickelt. Die klassische
Hierarchie wird radikal abgeschafft
und die Macht auf alle verteilt. Jeder
Mitarbeiter übernimmt eine oder
mehrere Rollen. Die Rollen werden
zu Kreisen zusammengefasst, die
sich selbst organisieren. Aber keiner
darf dem Ganzen schaden. Deshalb gibt es ein strenges
Regelwerk
s festlegt,
wie diskutiert und entschieden wird. Wenn in einer Diskus-
sion keiner mehr einen „wichtigen Einwand“ gegen einen
Vorschlag vorbringen kann, fällt die Entscheidung.
Brian J. Robertson:
Holacracy. Franz Vahlen, München
2016, 205 Seiten, 24,90 Euro
Einfach mal ohne Chef?