wirtschaft und weiterbildung 11-12/2016 - page 22

titelthema
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wirtschaft + weiterbildung
11/12_2016
„Wir fordern professionellere Coaching-Ausbildungen“
Sie wurden vor einiger Zeit von der Zeitschrift „Cicero“
zum einflussreichsten Naturwissenschaftler Deutsch-
lands gewählt. Was veranlasst einen berühmten
Hirnforscher, sich mit Coaching zu befassen?
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth:
Die Welt des Coachings und die
der Neurowissenschaften scheinen weit auseinanderzulie-
gen, aber ich kann Ihnen den Zusammenhang erklären: Ich
habe mich in den letzten 20 Jahren in enger Zusammenar-
beit mit Therapeuten – wie zum Beispiel dem bekannten
Heidelberger Psychiater, Psychoanalytiker und Familienthe-
rapeuten Professor Manfred Cierpka – sehr darum geküm-
mert, Erkenntnisse über die Grundlagen des menschli-
chen Fühlens, Denkens und Handelns zu gewinnen. Diese
Erkenntnisse haben dazu geführt, dass viele Therapeuten
heute anders arbeiten als früher – auch wenn sie vieler-
lei liebgewonnene Denkgewohnheiten überwinden muss-
ten. Alica Ryba, meine wissenschaftliche Mitarbeiterin,
hat mich davon überzeugt, dass neurowissenschaftliche
Erkenntnisse nicht nur auf die Therapie, sondern unbe-
dingt auch auf das Coaching übertragen werden sollten.
Ryba ist Diplom-Kauffrau mit Schwerpunkt Wirtschaftspsy-
chologie, hat mehrere Coaching-Ausbildungen absolviert
und ist bestens vernetzt in der deutschen Coaching-Szene.
Interview.
Professor Gerhard Roth, Neurobiologe, Professor für Verhaltensphysiologie und
Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, sprach mit
„wirtschaft + weiterbildung“ über seine Forschung und die Konsequenzen, die sich daraus für
die Coaching-Szene ergeben sollten.
Sie verantwortet den Coaching-Teil des Buches „Coaching,
Beratung und Gehirn“, und ich habe die Brücke zu den Neu-
rowissenschaften geschlagen.
Wo verläuft aus Ihrer Sicht die Grenze zwischen
Coaching und Therapie?
Roth:
In der Therapie, aber auch im Coaching geht es
unter anderem darum, Menschen zu begleiten, sich so zu
verändern, dass es ihnen hinterher mental und emotional
besser geht. Coaching unterscheidet sich von der Thera-
pie oft nur in der Schwere der psychischen Belastung. Im
Coaching geht es wie in einer Therapie nicht nur um das,
was bewusst ist, sondern in abgeschwächter Form auch
um das Unbewusste. Das gilt immer dann, wenn man über
das reine Reflektieren einer beruflichen Situation hinaus-
geht. Viele Manager wissen zum Beispiel theoretisch sehr
genau, wie man delegiert, und tun es trotzdem nicht, weil
sie unbewusst Angst davor haben, sich bei ihren Mitarbei-
tern unbeliebt zu machen. Solch einem Manager wird man
nicht helfen können, wenn man ihm rein auf der Verhaltens­
ebene Tipps gibt.
Etliche Coachs lernen in ihren Ausbildungskursen nichts
anderes, als Tipps auf der Verhaltensebene zu geben ...
Roth:
Ein Coach sollte sagen können, was er macht, und
wie das, was er macht, im Gehirn wirkt. Leider haben die
wenigsten Coachs ein tieferes und empirisch begründetes
Verständnis von den Tools, die sie einsetzen. Alica Ryba
und ich fordern deshalb von den Coaching-Verbänden, dass
sie sich zusammensetzen und die Ausbildung zum Coach
standardisieren und professionalisieren.
Der Therapieforscher Klaus Grawe hat schon vor rund
20 Jahren geschrieben, dass Therapie und Coaching
nur wirken, wenn sie im Gehirn stoffliche Verände-
rungen hervorrufen. Können Sie das bestätigen?
Roth:
Klaus Grawe hat in seinem Buch „Psychotherapie
im Wandel: Von der Konfession zur Profession“, das 1994
im Verlag Hogrefe erschien, völlig hellsichtig genau das
beschrieben, was wir Hirnforscher heute als Allgemeinwis-
sen betrachten. Inzwischen kann die Neurobiologie genau
erklären, wie das, was Grawe intuitiv behauptete, funktio-
niert.
Interview: Martin Pichler
Gerhard Roth.
Der Hirnforscher
weiß, wie wirk-
same Verände-
rungskonzepte
aussehen sollten.
Foto: Marijan Murat
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