wirtschaft und weiterbildung 4/2016 - page 22

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wirtschaft + weiterbildung
04_2016
titelthema
zu geben, damit sie ihre Lernprozesse
problemorientiert und selbstorganisiert
gestalten können. Es muss eine integra-
tive Bildung innerhalb eines „Ermög-
lichungsrahmens“ angestrebt werden,
deren Ziel nicht die „Vermittlung“ von
Wissen oder die „Erzeugung“ von Kom-
petenzen, sondern die Ermöglichung von
Kompetenzentwicklung ist. Die Ermög-
lichungsdidaktik ist die Antwort auf die
wirtschafts- und bildungspolitisch pro-
pagierte Forderung nach „lebenslangem
Lernen“.
Wie ein Lernarrangement auf einen Ler-
nenden wirkt, wie er den Input aufnimmt
und interpretiert, wie er verarbeitet, was
er wahrgenommen hat, und wie viel er
davon später, wenn er sein Wissen an-
wenden möchte, überhaupt noch zur Ver-
fügung hat, kann nicht geplant werden.
Von uns wird nicht mehr der Anspruch
erhoben, man könne Lernprozesse direkt
beeinflussen. Die Lernsituation sollte
deshalb nicht mehr vom Inhalt, sondern
aus dem Fokus des Lernenden als Lern-
rahmen gestaltet werden. Daher müssen
die bisherigen für alle Lerner gleichen
Wissens- und Qualifikationsziele durch
individuelle Kompetenzziele jedes einzel-
nen Lerners ersetzt werden.
Bildungsstandards taugen höchstens als
Mindestanforderungen oder als Richt-
ziele. Die gewünschte Handlung am Ende
des Lernprozesses ist das Ziel, nicht aus-
wendig aufgesagtes Wissen. Daraus lei-
ten sich natürlich sehr unterschiedliche
Herausforderungen ab, bei deren Bearbei-
tung Kompetenzen entwickelt werden,
je nachdem ob man es mit zehnjährigen
Schülern oder mit fünfzigjährigen Füh-
rungskräften zu tun hat. Das Grundprin-
zip ist aber immer das Gleiche.
Informelles Lernen in den
Communities of Practice
Die Lerner können nunmehr einen Er-
möglichungsrahmen nutzen, der ihnen
alles bietet, was sie zur Organisation
und zur Umsetzung ihrer eigenen Lern-
prozesse benötigen. Dort finden sie alle
Instrumente, die sie für ihre Kompetenz-
messung, die individuelle Lernplanung,
den selbstgesteuerten Aufbau von Wissen
und ihre Qualifikation, den Austausch
von Erfahrungswissen, die gemeinsame
Bearbeitung von Dokumenten sowie die
Rückmeldung der Ergebnisse ihrer Lern-
prozesse benötigen. Das können übrigens
auch ganz traditionelle Instrumente der
Kompetenzmessung wie einfache Tests
auf Papier, schriftlich ausgearbeitete
Lernpläne, brieflicher Austausch von Er-
fahrungen und Darstellungen der Lerner-
gebnisse sein. Auch in früheren Zeitaltern
haben Menschen Kompetenzen entwi-
ckelt und sich über ihre Kompetenzent-
wicklung, wenn auch mit anderem Voka-
bular, ausgetauscht.
Heute kann man sehr gut Soziale Lern-
plattformen einsetzen, um die Kompe-
tenzentwicklung im Netz zu ermögli-
chen. Diese kollaborative Lerninfrastruk-
tur ermöglicht formelles und informelles
Lernen, insbesondere im Prozess der
Arbeit. Den Rahmen dafür bilden so­
genannte Communities of Practice. Die
Lerner wählen dabei selbst die Ziele,
Inhalte, Strategien, Methoden und Kon-
trollmechanismen ihrer Lernprozesse
und kommunizieren überwiegend über
die Soziale Lernplattform miteinander.
Es entsteht damit eine informelle soziale
Struktur, die von den Lernern geprägt
wird. Häufig werden dabei Web-2.0-
Kommunikationsinstrumente wie Blogs,
also Social Software, genutzt, sodass
soziale Lerngemeinschaften entstehen
können. Communities of Practice ent-
wickeln sich häufig auch aus Learning
Communities im Rahmen formeller Lern-
prozesse und werden nach Abschluss
Lernen und Arbeiten wachsen zusam-
men. Die Bewertung von Lernleistungen
fordert nicht mehr, viel zu wissen, son-
dern Wissen zur Lösung von Herausfor-
derungen methodisch sinnvoll nutzen
zu können. Ein juristisch belastbares
Verfahren zur qualifikationsanalogen
Ermittlung und Bewertung von Kompe-
tenzen muss geschaffen werden. Diese
Paradigmenwechsel stellen vieles infrage,
was die heutigen Bildungssysteme in
Schule, Hochschule und in den Unterneh-
men prägt. Es gibt aber keine Alternative
dazu, wenn Deutschland wettbewerbs­
fähig bleiben soll. Und es ist möglich,
wenn ein politischer Wille vorhanden ist.
Alle Menschen sind von der Kompetenz-
katastrophe betroffen. Es genügt deshalb
nicht, darauf zu warten, dass sich die
Rahmenbedingungen des Lernens än-
dern. Wir müssen den Kampf gegen die
Kompetenzkatastrophe jetzt aufnehmen.
Ermöglichungsdidaktik
Eine strenge Kausalität zwischen Lehren
und Lernen kann nicht aufrechterhal-
ten werden. Es ist vielmehr ein Lernen
erforderlich, das als selbstorganisierter,
konstruktivistischer Aneignungsprozess
verstanden wird, also nicht als Aufnahme
belehrender, de facto nicht möglicher
„Wissensvermittlung“. In kompetenz­
orientierten Lernarrangements wird eine
Ermöglichungsdidaktik benötigt, die zum
Ziel hat, den Lernenden alles an die Hand
Prof. Dr. Werner
Sauter
ist wissenschaft-
licher Leiter und
Bildungsberater
der Blended Solutions GmbH in Berlin.
Er war Personalentwickler bei einer
Bank sowie Gründer und Vorstand
eines E-Learning-Anbieters. Heute
ist er Experte in Sachen Kompetenz­
entwicklung im Arbeitsprozess.
Blended Solutions GmbH
Am Friedrichshain 22
10407 Berlin, Tel. 030 81474730
AUTOR
Prof. Dr. John
Erpenbeck
lehrt Kompetenz-
m a n a g e m e n t
an der School of
International Business and Entrepre-
neurship (SIBE) in Berlin. Er gilt als
einer der erfahrensten Kompetenz­
forscher in Deutschland.
Steinbeis, School of international
Business and Entrepreneurship
GmbH (SIBE):
Kalkofenstr. 53, 71083 Herrenberg
Tel. 07032 94580
AUTOR
R
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