wirtschaft und weiterbildung 4/2016 - page 21

wirtschaft + weiterbildung
04_2016
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strument, sondern Lernpartner im eigent-
lichen Kompetenzentwicklungsprozess
sein. Der limitierende Faktor in zukünf-
tigen Lernsystemen ist nicht mehr die
Technologie, sondern der Mensch, weil
er erst lernen muss, mit seinem neuen,
technologischen Lernpartner souverän
umzugehen.
Wir kennen heute viele Wege und Me-
thoden, Kompetenzen zu entwickeln und
zu trainieren. Wir verfügen heute zur Er-
fassung der Kompetenzentwicklung über
eine Vielzahl von Kompetenzmessmetho-
den, deren Ergebnisse manchmal genauer
sind und tiefer loten, als Schulnoten oder
universitäre Zensuren. Wir haben nicht
erst heute eine erstaunlich einheitliche
Vorstellung von dem, was Kompetenzen
„sind“, nämlich eben jene Fähigkeiten zu
selbstorganisiertem, kreativem Handeln.
Die Kompetenzkatastrophe besteht auch
darin, dass individuelle Weitsicht und
Veränderungsbereitschaft gegen Mauern
institutioneller Blindheit und Verände-
rungsunfähigkeit anrennt.
Es ist beinahe tragikomisch, wie Georg
Picht seinerzeit versuchte, für Bund und
Länder Notstandsprogramme und verbes-
serte Verwaltungsabkommen zu entwer-
fen, Bildungsplanung und Kulturpolitik
in Bewegung zu bringen. Überall, wo er
quantitative Ausweitungen forderte, gab
es durchaus Erfolge. Die Anzahl der Abi­
turienten erhöhte sich rasant. Die Uni-
versitäten wurden mehr und mehr zu
Massenuniversitäten. Aspekte der Kom-
petenzentwicklung spielten jedoch keine
Rolle. Wir glauben: Die Verhältnisse
haben sich deutlich verändert.
Die Unternehmen fordern und fördern
kompetente Mitarbeiter und haben ei-
gene Kompetenzmodelle entwickelt, um
die Handlungsfähigkeit der Mitarbeiter
zu erfassen und deren Entwicklung zu er-
möglichen. Immer mehr Schulen nehmen
die Forderungen nach einem wirklich
kompetenzorientierten Unterricht jen-
seits von Pisa ernst. Immer mehr Eltern
bevorzugen, wenn sie die hohen Kosten
aufbringen können, kompetenzorientierte
Privatschulen. Immer deutlicher artiku-
liert sich die Kritik am wissenslastigen
Bildungssystem, an der „Weiterbildungs-
lüge“, die Faktenwissen für Kompetenzen
ausgibt, an Lehrern, die Begabungen
nivellieren und all das missachten, was
wir heute über die neuropsychologischen
Mechanismen des Lernens und Handelns
wissen. Die Kompetenzkatastrophe ver-
schanzt sich hinter nahezu unbezwing-
baren Barrieren, die den Übergang von
der Wissensgesellschaft zur Kompetenz-
gesellschaft erschweren und oft verhin-
dern. Innovative Wege des Lernens mit
dem Ziel der Kompetenzentwicklung
sind gefragt. Für die Gesellschaft – und
für jeden Einzelnen.
Das Internet hilft mit, dass
Kompetenzen reifen können
„Ein Zugewinn an Bildung im Sinne eines
Zugewinns an Kompetenzen bedeutet
einen Zugewinn an Handlungsfähigkeit
und damit einen Zugewinn an Teilhabe
am Leben und an der Welt“, schrieben im
Jahr 2013 Werner G. Faix und Jens Mer-
genthaler in ihrem Buch „Die schöpfe-
rische Kraft der Bildung: Über Innovation,
Unternehmertum, Persönlichkeit und Bil-
dung“. Sie weisen darauf hin, dass man
Sach- und Fachwissen pauken könne,
Kompetenzen zu entwickeln gehe aber
nur über Erfahrungen, Werte und Emoti-
onen. „Kompetenzen müssen reifen.“
Jedes Wissen, auch Sach- und Fachwis-
sen, muss außerdem emotional „imprä-
gniert“ sein, um kompetent eingesetzt
werden zu können. Informationswissen
lässt sich wie üblich zensieren. Kompe-
tenzen sind schwerer zu beurteilen – aber
es gibt längst bewährte Verfahren der
Kompetenzerfassung, dem klassischen
Buchtipp.
John Erpenbeck, Werner Sauter:
Stoppt die Kompetenzkatastrophe! Sprin-
ger Verlag, Berlin und Heidelberg 2016,
Taschenbuch mit 252 Seiten, 14,99 Euro
Zensieren in ihrer Treffsicherheit eben-
bürtig, aber sehr viel aussagefähiger.
Künftiges Lernen, künftige Kompetenz-
entwicklung findet fraglos in und mit
dem Internet statt – das Netz ist einer
der wichtigsten sozialen Räume künftiger
Kompetenzentwicklung.
Bildungsziele müssen die Fähigkei-
ten zum selbstorganisierten, kreativen,
physischen und geistigen Handeln, zur
selbstorganisierten Bewältigung von He-
rausforderungen werden. Diese Lernziele
können nicht mehr zentral als Curricula
vorgegeben werden. Es wird vielmehr ein
gemeinsamer Zielrahmen durch Richt-
ziele abgegrenzt. Die Lerner definieren
darin ihre Kompetenzziele und zwar in-
nerhalb von Ermöglichungsrahmen und
in der Kommunikation mit Lernpartnern
und mit Unterstützung der Lernbeglei-
tung selbstorganisiert.
Bildungsinstitutionen konzentrieren sich
zunehmend auf die Gestaltung von Er-
möglichungsrahmen für die Bildungspro-
zesse sowie die Lernbegleitung. Ansons­
ten gehört alle Macht den Lernern und
ihren Lernbegleitern sowie den Schulen,
Hochschulen und Bildungsanbietern, die
innerhalb der Vorgaben das Lernen ge-
stalten und Lernprozesse ermöglichen.
Die didaktische Gestaltung des Lernens,
weg von einer Belehrungsdidaktik hin zu
einer Ermöglichungsdidaktik, die selbst-
organisiertes Lernen in allen Bildungsbe-
reichen ermöglicht, gewinnt mehr und
mehr Vorrang.
Wissensaufbau, Qualifizierung und Kom-
petenzentwicklung werden in die Eigen-
verantwortung der Lerner übertragen.
Die methodische Gestaltung des Lernens
orientiert sich zunehmend an den realen
Entwicklungen in Gesellschaft, Wirt-
schaft und Kultur und ermöglicht eine be-
darfsgerechte emotionale Imprägnierung
des Wissens durch Begeisterung, Leiden-
schaft, Engagement, Willen, Interesse,
Neugier, Wissbegier, Entdeckergeist,
Phantasie – aber auch durch Vorsicht,
Bedachtsamkeit, Angst. Seminaristisches
Lernen mit seiner erschreckend geringen
Lerneffizienz wird durch selbstorgani-
sierte Lernformen in Blended Learning
Arrangements, anwendungsnahem Ler-
nen und kollaborativem Lernen in Pro-
jekten und am Arbeitsplatz, Social Work-
place Learning, ersetzt.
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