wirtschaft und weiterbildung 4/2016 - page 20

titelthema
20
wirtschaft + weiterbildung
04_2016
verändert hat und beschleunigt verändern
wird. Wir steuern auf eine sich rasend
verändernde Datenökonomie, eine Daten-
kultur, eine Datenwelt zu. Wir benötigen
völlig neue Fähigkeiten, mit dem Internet
zurechtzukommen und trotzdem men-
schengerecht zu handeln. Wer glaubt,
immer mehr von diesen Daten, diesem
Informationswissen in seinem Gehirn
abspeichern zu müssen, ist schon ver-
raten. Dass das heutige Bildungssystem
genau in diesem Glauben verharrt, dass
es das Lernen von Sach- und Fachwissen
immer noch für das Alpha und Omega
von Bildung hält, ist eine viel ernstere als
die von Picht kritisierte Bildungskatastro-
phe. Diese Bildungskatastrophe hat sich
nämlich zur Kompetenzkatastrophe aus-
geweitet.
Schon Picht postulierte: „Bildungsnot-
stand heißt wirtschaftlicher Notstand.
Wenn das Bildungswesen versagt, ist die
ganze Gesellschaft in ihrem Bestand be-
droht.“ Wie Studien zeigen, hängen die
volkswirtschaftlichen Wachstumsraten
langfristig direkt mit den Kompetenzen
der Menschen zusammen, weil eine kon-
tinuierliche Kompetenzentwicklung die
Menschen in ihrer Arbeit produktiver und
innovativer macht. Wird die Kompetenz-
katastrophe nicht aufgehalten, droht der
geistige und wirtschaftliche Rückschritt
gegenüber anderen Ländern. Wenn man
die Umfrageergebnisse der Initiative D21
zur Medienbildung in deutschen Schulen
liest, wird einem Angst und Bange. Über
die Hälfte der befragten Lehrer lehnt es
ab, neue Medien in ihren Unterricht zu
integrieren, unter anderem, weil sie die
Gefahr sieht, dass die Schüler von der
Informationsflut überfordert werden.
Wie Kinder mit digitalen Medien konkret
umgehen, unterscheidet sich entlang der
formalen Bildungsgrade der Eltern. Fur
Kinder aus Familien mit geringerer forma-
ler Bildung ist das Internet vor allem ein
Freizeitmedium. Kinder bildungsnaher
Eltern nutzen die vielfaltigen digitalen
Moglichkeiten deutlich breiter – etwa fur
die Informationssuche. Wer jedoch, wenn
nicht die Schule, soll es allen Kindern und
Jugendlichen ermöglichen, die notwen-
dige Medienkompetenz aufzubauen, um
das Wissen der Welt problemorientiert
zu nutzen, es aktiv und kreativ mitzuge-
stalten? Digitale Medien mit ihrem revo-
lutionären Potenzial ermöglichen es, den
Lernbegriff neu zu denken.
Die Komplexität der Wirtschaft
verlangt neue Lernkonzepte
Auch in Bezug auf Facharbeiter, Ingeni-
eure oder kaufmännische Mitarbeiter in
den Unternehmen wächst die Bedeutung
der Kompetenzentwicklung viel zu lang-
sam. Die betriebliche Arbeitswelt verän-
dert sich mit zunehmender Dynamik. Die
Entwicklung zum Social Business und
das Internet, insbesondere die Sozialen
Netzwerke, beeinflussen die Arbeitssy-
steme in den Unternehmen zunehmend.
Detaillierte Vorgaben und ständige Kon-
trolle verlieren an Bedeutung, dagegen
wird Selbstorganisation und die Fähig-
keit zur Zusammenarbeit und zum ge-
meinsamen Lernen gefordert. Trotzdem
verharren die meisten der betrieblichen
Bildungs- und der überbetrieblichen Aus-
und Weiterbildungssysteme weiter in der
Welt des Seminarlernens.
Der Mensch verliert seinen Alleinvertre-
tungsanspruch auf das Denken. In weni-
gen Jahren werden humanoide Compu-
ter, die menschenähnlich denken, nicht
mehr nur technischer Gehilfe, Gerät, In-
04.
Neue Medien ermöglichen
einen schnellen Erfahrungs-
austausch
mit vielen.
05.
Lerntagebücher (Blog, Wiki)
und Coachs helfen, Lern-
erfahrungen zu
reflektieren.
06.
Ziel: Am Arbeitsplatz werden
selbstorganisiert und kreativ
Probleme
gelöst.
Wissensweitergabe in Schulen, Uni-
versitäten und Managementseminaren
gilt immer noch als der Weisheit letzter
Schluss. Das führt zum „Bulimielernen“:
Wissen aufnehmen, in Prüfungen aus-
spucken und sofort vergessen. Doch das
betriebliche Lernen wird sich, entspre-
chend der komplexer werdenden Arbeits-
welt, radikal verändern.
Kompetenzen (die Fähigkeit, selbstorga-
nisiert und kreativ Herausforderungen
am Arbeitsplatz zu bewältigen) interes-
sieren die meisten Bildungsverantwort-
lichen nur in Sonntagsreden. Erfolgreiche
Kompetenzentwicklung setzt Eigen-
verantwortung und Selbstorganisation,
Lernen in realen Herausforderungssitua-
tionen sowie die Anwendung und Bewäh-
rung in der eigenen Lebenswelt voraus.
Die heutigen Bildungssysteme in Schulen,
Hochschulen und auch in den Unterneh-
men ignorieren diese Anforderungen und
verhindern damit die Entwicklung einer
Kompetenzgesellschaft.
Von der Bildungskatastrophe
zur Kompetenzkatastrophe
Bereits 1964, vor fast genau fünfzig Jah-
ren, erschien ein revolutionäres Buch,
das die deutsche Bildungslandschaft er-
schütterte – aber dennoch nicht revoluti-
onieren konnte. Ein Buch, das Hunderte
Schritte anstieß, aber im Laufe von teil-
weise wichtigen, teilweise nur bürokra-
tischen Entwicklungen, seine revolutio-
näre Sprengkraft einbüßte: „Die deutsche
Bildungskatastrophe“ von Georg Picht.
Heute zeichnet sich ein neuer wissen-
schaftlicher, technischer und politischer
Schub ab, eine neue Revolution der Pro-
duktivkräfte, die das Leben und Lernen
aller Menschen auf dramatische Weise
R
1...,10,11,12,13,14,15,16,17,18,19 21,22,23,24,25,26,27,28,29,30,...68
Powered by FlippingBook