wirtschaft und weiterbildung 06/2015 - page 22

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wirtschaft + weiterbildung
06_2015
titelthema
Zentrale Prinzipien der „neuen“ Unternehmensformen
1
Prinzip:
Auflösung funktionaler Differenzierung
Beobachtet werden kann eine Abkehr von der Unterglie-
derung eines Unternehmens in Abteilungen. In postbüro-
kratischen Unternehmen werden ehemals ausgegliederte
Funktionen in die Fertigung zurückgeführt. Die Abgren-
zungen zwischen Forschung, Arbeitsvorbereitung, Produk-
tion und Marktforschung, Marketing, Vertrieb und Logistik
erodieren ebenso wie das aus ihrer Trennung entstandene
zeitliche Nebeneinander der Arbeitsprozesse. Der Produk-
tionsbereich und die Verwaltung verschmelzen immer mehr
ineinander.
Dadurch erhoffen sich die Unternehmen eine reibungslose
Überwindung von Schnittstellen zwischen den unterschied-
lichen Bereichen des Arbeitsprozesses. Die ehemals funk-
tional zergliederten Arbeitsprozesse werden jetzt um Pro-
dukte oder besser um Prozesse herum angesiedelt. Dabei
werden Mitarbeiter ehemals verschiedener Unternehmens-
bereiche, wie Ein- und Verkauf, Marketing, Forschung und
Entwicklung, Finanzen und Produktion, um eine Aufgabe
herum zusammengezogen – zum Beispiel die Erfüllung
eines Kundenauftrages oder die Entwicklung eines neuen
Produkts.
2
Prinzip:
Enthierarchisierung
Die Auflösung funktionaler Differenzierungen in verschie-
dene Abteilungen ist verbunden mit der zweiten grundle-
genden Entwicklung: der Enthierarchisierung als radikalem
Abbau vertikaler Differenzierung. Hierarchie ist eine Rang-
differenzierung, die auf unterstellten Drohpotenzialen
basiert.
Hierarchie ist in bürokratisch-zentralistischen Organisa-
tionen funktional. Sie gewährleistet eine Verholzung von
Macht, erspart dadurch deren andauernde Messung und
erlöst so von ständigen Kämpfen zur Klärung unklarer Ver-
hältnisse. Die Verstetigung von Macht in Hierarchien ist
bei unruhigen, instabilen Umwelten jedoch (so die Meinung
in der Managementliteratur) kontraproduktiv, weil dadurch
Entscheidungsprogramme und Kommunikationswege fest-
gezurrt werden.
Die Antwort auf diese Gefahr, die von einer Erstarrung
ausgeht, besteht laut allgemeinem Tenor in einer drasti-
schen Reduzierung hierarchischer Stufen und einem kon-
sequenten Ausbau der Durchlässigkeit zwischen den ver-
bleibenden Ebenen.
Analyse.
Wenn von einer Demokratisierung der Unternehmen die Rede ist, geht es meistens
um die Abschaffung von Abteilungsstrukturen, den Abbau von Hierarchiestufen und eine
Dezentralisierung. Stefan Kühl erklärt, was hinter diesen Prinzipien steckt.
3
Prinzip:
Dezentralisierung
Die Aufhebung vertikaler und horizontaler Differenzierung
führt zu einer konsequenten Dezentralisierung. Planung
und Kontrolle sollen so nah wie möglich am Kunden ange-
siedelt werden. Die Quelle der Wertschöpfung wird von der
eigentlichen Produktion zum Kunden verlagert. Die Verla-
gerung der Wertschöpfung zum Kunden scheint auch eine
Reaktion auf die Verlagerung der Nachfrage zu sein. Die
Kunden kauften, so die Beobachtung von Unternehmen,
immer weniger ein materielles Produkt, sondern eine Lei-
stung.
Statt eines Autos (letztlich nicht mehr als eine Kombina-
tion aus Metall, Plastik, Glas und Elektronik) werde die
Leistung „individueller Personentransport“ eingekauft.
Ob diese Leistung durch den Kauf eines Autos am besten
erfüllt werde oder ob nicht vielleicht eine Kombination
verschiedener Services (Bahn, Fahrrad, Carsharing) diese
Leistung effektiver und kostengünstiger erbringen könne,
hänge nicht zuletzt von Umweltbedingungen ab (Staus,
Straßenbau, alternative Angebote). Der Kunde wolle häufig
nicht ein Produkt kaufen, sondern die Lösung eines Pro-
blems erreichen.
„New Work“ als Marketing-Instrument?
Anmerkung: Hinter „New Work“ und dem Trend zum „demo-
kratischen Unternehmen“ steckt womöglich auch der
Wunsch, die eigene, modern wirkende Organisationsstruk-
tur als Marketinginstrument einzusetzen. Die klassische
Vorstellung der Managementlehre besagt, dass Produkte
wegen ihrer spezifischen Qualität gekauft werden. Der
Kunde, so die Vorstellung, interessiere sich allein für die
Qualität des Endproduktes und verhalte sich gegenüber
dem Herstellungsprozess weitgehend indifferent. Ob ein
Produkt in Fließbandfertigung, in Gruppenarbeit, in Netz-
strukturen von Selbstständigen oder durch Zulieferer pro-
duziert und montiert werde, sei für den Kunden unwichtig,
solange das Produkt seinen Zweck erfülle. In einem Mark-
tumfeld, in dem Produkte und Leistungen einander immer
stärker zu gleichen scheinen und langfristige Kundenbin-
dungen an Bedeutung gewinnen, gibt es jedoch entgegen
dieser Annahme die aktuelle Tendenz, dass Unternehmen
anfangen, mit den eigenen, modern und menschenfreund-
lich wirkenden Organisationsstrukturen zu werben.
Stefan Kühl
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