06_2015
wirtschaft + weiterbildung
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des Steinmetzes verbreitet, der auf die
Frage nach seiner Tätigkeit nicht mit „Ich
behaue Steine“ oder „Ich verdiene mein
Geld“ antwortet, sondern stolz erzählt,
dass er an einer Kathedrale baue.
Man geht davon aus, dass Unternehmen
besser seien, wenn der Arbeitsprozess
durch das Eigeninteresse der Mitarbeiter
an dem, was sie machten, „versteift“ und
„stabilisiert“ werde. Es wird geglaubt,
dass Wandlungsprozesse dann besser
funktionierten, wenn die Identifikation
mit der Vorgehensweise nicht nur durch
hohe Gehälter und Prämien, durch dicke
Dienstwagen oder Incentivereisen mit
Oliver Kahn oder Heidi Klum erkauft
werden müssten, sondern als Teil des
persönlichen Interesses der Mitarbeiter
begriffen werde. Man geht von der An-
nahme aus, dass Menschen motivierter
handelten, wenn sie von einer „Sache“
selbst fasziniert seien und sich deshalb
mit den Werthaltungen und Normen des
Unternehmens identifizieren könnten.
Es gibt jedoch eine nicht zu unterschät-
zende Schattenseite, wenn sich Mitar-
beiter mit bestimmten Prozessen oder
Produkten identifizieren. Das Unterneh-
men büßt – und das mag auf den ersten
Blick überraschend klingen – stark an
Wandlungsfähigkeit ein. Es verliert an
Elastizität, wenn sich die Mitarbeiter mit
einem Produkt oder einem Prozess iden-
tifizieren. Für Mitarbeiter ist es schwer
einzusehen, weswegen sie eigentlich Ver-
änderungen akzeptieren sollen, die nicht
ihrem Selbstbild von Prozessen und Pro-
dukten entsprechen.
Die Schattenseiten der
Demokratisierung
Hier wird die andere Seite der Medaille
deutlich: Ist der Arbeitsprozess durch Ei-
geninteressen der Mitarbeiter „versteift“
und „stabilisiert“, bereitet eine Verände-
rung dieser versteiften und stabilisierten
Prozesse erhebliche Schwierigkeiten. Der
Steinmetz, der sich darüber definiert,
dass er an der Erbauung einer Kathe-
drale mitwirkt, wird nur unter größten
Schwierigkeiten auf den verschiedensten
Baustellen des Mittelalters einsetzbar ge-
wesen sein. Es ist wie mit einem Fußball-
spieler, der sich stark mit seiner Position
als Angriffsspieler identifiziert und des-
wegen dort gute Leistungen erbringt, aber
eben kaum noch in der Lage ist, auf einer
anderen Position zu spielen.
Ein Mitarbeiter, der seine Motivation
maßgeblich daraus zieht, ein ganz be-
stimmtes Produkt an den Kunden zu
bringen, wird nur schwerlich dafür zu be-
geistern sein, ein anderes Produkt zu ver-
kaufen. Eine Mitarbeiterin, die innerhalb
ihrer Gruppe für die flexible Bearbeitung
von Aufgabenpaketen zuständig ist und
sich mit dieser Gruppe stark identifiziert,
kann Motivationsprobleme haben, wenn
man plötzlich von ihr verlangt, ganz an-
dere Tätigkeiten auszuführen. Ein Ver-
triebsmitarbeiter, der stolz darauf ist, dass
sein Unternehmen ein besonders moder-
nes Abrechnungssystem hat, wird einen
Motivationseinbruch erleiden, wenn die
Unternehmensleitung dieses Abrech-
nungssystem wieder abschafft.
Die Lösung, die Managementberater für
dieses Problem anbieten, lautet, dass
sich Mitarbeiter eben nicht mit engen
Aufgabenbereichen identifizieren sollten,
sondern mit umfassenderen Prozessen:
Mitarbeiter sollten sich nicht mit ihrer
Position an ihrem Schreibtisch identifizie-
ren, sondern mit umfassenden Prozessen
oder am besten mit dem Unternehmens-
teil, in dem sie tätig sind. Am besten sei
es, wenn sich der Mitarbeiter mit der Zu-
friedenheit des Kunden identifiziere. Frei
nach dem Motto: Ich bin froh, wenn mein
Kunde zufrieden ist. Der Kunde ist König,
und ich als Dienender ziehe mein Glück
daraus, wenn der König mir ein Lächeln
und einen Teil des Inhaltes seiner Geld-
börse schenkt.
Dieser Ansatz wird besonders von dem
amerikanischen Managementguru Peter
Senge gepredigt. So berichtet er von
einem großen amerikanischen Stahlun-
ternehmen, das mehrere Niederlassungen
schließen musste. Dieses Stahlunterneh-
men bot den Arbeitern an, eine berufliche
Umschulung zu machen. Aber diese Um-
schulungsmaßnahme hatte keinen Erfolg.
Die Mitarbeiter drifteten in die Arbeitslo-
sigkeit ab. Als Ursache meinte Senge er-
R
Stefan Kühl
ist Professor für
Organisationsso-
ziologie an der
Universität Biele-
feld und arbeitet als Organisationsbe-
rater bei „Metaplan“ in Quickborn für
Unternehmen, Verwaltungen, Ministe-
rien und Vereine. Seine Management-
trilogie über die „Tücken der flachen
Hierarchien“, die „Widersprüche im
Konzept der lernenden Organisation“
und die „vergebliche Suche nach der
optimalen Organisationsstruktur“ ist
gerade in einer erweiterten und aktua-
lisierten Neuauflage erschienen.
Metaplan – Thomas Schnelle
Gesellschaft für Planung und
Organisation mbH
Goethestr. 16
25451 Quickborn
Tel. 04106 6170
AUTOR
Foto: Pichler
„Personal 2015 Nord“.
Hier wurde der New-Work-Dokumentarfilm „Augen-
höhe“ gezeigt. Thomas Sattelberger liefert im Film Hintergrundinformationen.