33
2.2019
Feinstaubwerte waren deutlich höher). Die wilden Müllkippen
sind beseitigt (dazu wurde auch gleich das verseuchte Grund-
wasser geklärt). Heute wird Mülltrennung praktiziert (jedenfalls
manchmal). Und was hat dieses Wunder bewirkt? Deutschland
hat sich gewandelt, gewendet und reformiert: die Agrarwende,
die Verkehrswende, die digitale Wende oder die Energiewende
sind nur einige Beispiele.
Oppositionelle Bewegungen der Zivilgesellschaft haben groß-
en Anteil daran, dass derartige Veränderungen durchgesetzt wer-
den. Aber auch schweigsameWissenschaftler, penible Bürokraten
der öffentlichen Institutionen, beinharte Baudirektorinnen, eitle
Gestaltungsbeiräte, feurige Unternehmer, Interessenverbände,
Journalisten und Politiker sorgen dafür, dass Wissen und Er-
kenntnisse gewonnen, geprüft, abgewogen, durchgesetzt, koor-
diniert, angewendet und umgesetzt werden. Es sind dieMenschen
in ihrer Vielheit, die bessere Gesellschaften bauen. Ich möchte
nicht falsch verstanden werden. Deutschland ist dabei keine
rühmliche Ausnahme, ja, noch nicht einmal ein besonders er-
folgreiches Beispiel.
Die letzten Jahrzehnte sind für die Menschheit weltweit eine
grandiose Erfolgsgeschichte gewesen. Ob Armuts-, Krankheits-,
Verbrechens-, Katastrophenbekämpfung, Schulbildung oder Le-
benserwartung, in allen Bereichen haben sich die Lebensverhält-
nisse der Menschen radikal verbessert. Wer das bezweifelt, dem
empfehle ich das Buch Factfulness von Hans Rosling, dem Di-
rektor der Gapminder-Stiftung. Heute sind diese Entwicklungen
gut beschrieben und anhand allgemein zugänglicher Statistiken
im Detail nachgewiesen. Diese Erfolge sind das Ergebnis inter-
nationaler Kooperation und technologischen Fortschritts. Die
Zusammenarbeit internationaler Institutionen, Gemeinschaften
und Individuen hat zu den größten Erfolgen in der Menschheits-
geschichte geführt.
Deshalb sollten wir uns entschieden gegen die dramatisch
pessimistische Weltsicht und gegen die so weit verbreitete Hoff-
nungslosigkeit stemmen, demNährboden für Bullshitter und Po-
pulisten. Denn wenn wir wissen, dass die Welt nicht so schlecht
ist, wie sie erscheint, können wir genauer erkennen, was zu tun
ist, um sie besser zu machen.
neben Kriegsruinen und die roboterhaften Grenzpolizisten am
Todesstreifen prägten unseren Aufenthalt im real existierenden
Sozialismus. Zuhause wurde „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ge-
lesen. In meiner Bundeswehrzeit sollte ich denWesten imKalten
Krieg verteidigen. Da standen sich in den 80ern, mitten in Euro-
pa, tausende von atomar bestücktenMarschflugkörpern, Panzern
und Soldaten gegenüber.
Während meines Studiums schockierte mich besonders das
Waldsterben, später beängstigte das wachsende Ozonloch die
Welt. Beides keine Fake News, sondern reale Bedrohungen, die
inzwischen gestoppt werden konnten. Der Wald ist in Deutsch-
land mittlerweile enorm gewachsen (um eine Fläche, die doppelt
so groß ist wie der Schwarzwald), und nach demweltweiten Ver-
bot von FCKW schließt sich das Ozonloch wieder. Das interes-
siert nur keinen mehr. Ist ja nichts zum Gruseln.
Und auch die Städte begannen aufzublühen, erlebten eine
beispiellose Renaissance. Hamburg ist mit der Hafencity und
der Elbphilharmonie eine weltweit bewunderte städtebauliche
Meisterleistung gelungen. Bremen feiert mit seiner Altstadt Er-
folge, Berlin eigentlich an allen Ecken und Enden, Düsseldorf mit
der Rheinuferpromenade, Frankfurt mit dem Europaviertel und
demHochhausrahmenplan, Münchenmit demWerksviertel und
Stuttgart mit dem Tiefbahnhof.
Überall wachsen die Städte geordnet, bieten Lebensqualität
und gewinnen Einwohner. Es wurden Parks eröffnet, Plätze von
PKWs befreit, Radwege angelegt, Straßen beruhigt, Flughäfen,
Bahnhöfe, Schnellstrecken, Autobahnen, Wissenschaftsstandorte
und Universitäten, Museen, Opern, Theater gebaut, Altstädte sa-
niert, ein ganzes Land abgewickelt und wieder aufgebaut.
Zur Zeit entstehen in Deutschland etwa 300.000 neue Woh-
nungen pro Jahr. Das sind immer noch 50.000 weniger als an-
gestrebt (das ist die Nachricht), aber 140.000 mehr als vor zehn
Jahren (das ist keine Nachricht). In diesem Zeitraum sind auch
sechs Millionen Erwerbstätige in Deutschland dazugekommen
(na und?). Die arbeiten fast überall, auch imWissenschaftsstand-
ort Adlershof oder bald imSiemens Innovationscampus in Berlin.
De facto sind heute die Flüsse sauberer und die Seen klarer.
Auch die Luft ist in den Städten reiner als in meiner Jugend (die
Die Nachrichten können uns verzweifeln lassen. Aber sind wir nicht
Opfer unserer verzerrten Wahrnehmung? Die unleugbare Verbesserung
unserer Lebensverhältnisse wird es nie auf die Titelseiten schaffen.
«
ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 mit Helge Schmidt gemeinsam das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin. Internationale
Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten an den
Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.