47
          
        
        
          wenn möglich – Risiken aus dem Wege gehen.
        
        
          Das ist die andere Seite. Und während wir auf
        
        
          der einen Seite das Hohelied der Herausforde-
        
        
          rungen intonieren, errichten wir auf der ande-
        
        
          ren Seite bürokratische Risikomanagement-
        
        
          Systeme (RMS):
        
        
          „Das RMS erfordert ein Risikofrühwarnsystem,
        
        
          welches Risikoidentifikation, Einzelrisikobewer-
        
        
          tung, Risikokommunikation, Risikoaggregation
        
        
          und Risikobericht umfasst, sowie ein Risiko-
        
        
          überwachungssystem und ein Risikobewälti-
        
        
          gungssystem. Explizit gesetzlich verpflichtend
        
        
          sind nach § 91 Abs. 2 AktG zunächst nur die
        
        
          ersten beiden Bestandteile, die auch Gegen-
        
        
          stand der Abschlussprüfung sind. Die Notwen-
        
        
          digkeit zur Einrichtung eines Risikobewälti-
        
        
          gungssystems kann aber aus der allgemeinen
        
        
          Sorgfaltspflicht des Vorstands nach § 93 Abs. 1
        
        
          AktG abgeleitet werden.“
        
        
          1
        
        
          Da ist unternehmerisches Verhalten nicht mehr
        
        
          zu erkennen. Es dient wohl eher einer Kultur, in
        
        
          der es vor allem darum geht, nicht verantwort-
        
        
          lich zu sein, wenn es schiefgeht.
        
        
          
            Wer mit Geld umgehen will,
          
        
        
          
            darf Risiken nicht scheuen
          
        
        
          Der Transformationsprozess von Geld in Kauf-
        
        
          kraft und Preis in Wert ist immer mit Unge-
        
        
          wissheiten verbunden. Das wissen wir aus un-
        
        
          serer täglichen Erfahrung. Aber wir bilden es
        
        
          in unseren Rechnungen, Bewertungen, Pla-
        
        
          nungen und Berichten nicht ab. Wir rechnen
        
        
          auf den Cent genau. Wir bewerten eindeutig.
        
        
          Wir planen linear auf einen klaren Zielpunkt
        
        
          ausgerichtet. Und wir berichten über Abwei-
        
        
          chungen zu unseren Berechnungen, in denen
        
        
          keinerlei Risiken sichtbar werden. Wir rechnen
        
        
          mit Preis und Geld. Aber wir fühlen uns nicht
        
        
          zuständig für ihre Transformation in Wert und
        
        
          Kaufkraft.
        
        
          Im Ergebnis verbringen wir
        
        
          mehr Zeit damit, die Vergangenheit zu op-
        
        
          timieren und Schuldfragen aus dem Weg
        
        
          zu gehen bzw. „anderen“ zuzuweisen, als
        
        
          uns den Herausforderungen der Zukunft
        
        
          zu stellen.
        
        
          Dass es anders geht, wissen wir ebenfalls.
        
        
          Welcher Controller hat noch nichts über Sze-
        
        
          narien, risikoadjustierte Bewertungen oder
        
        
          Monte-Carlo-basierte Planungen gehört? Und
        
        
          wir wissen auch:
        
        
          „Wenn der Planwert als Verteilung dargestellt
        
        
          werden muss, bildet der Istwert einen Zufalls-
        
        
          wert aus einer gegebenen Verteilung. Das Ver-
        
        
          ständnis von Abweichungen als Differenz zwi-
        
        
          schen Planwert und Istwert stellt dann keinen
        
        
          sinnvollen Zusammenhang mehr dar. Stattdes-
        
        
          sen muss nunmehr in der Analyse festgestellt
        
        
          werden, ob die Abweichung auf bekannte Risi-
        
        
          ken zurückzuführen ist. Falls dies nicht der Fall
        
        
          ist, wurde ein neues Risiko erkannt und ist in
        
        
          der zukünftigen Planung zu berücksichtigen.
        
        
          Falls die Abweichung auf ein gekanntes Risiko
        
        
          zurückzuführen ist, ist die Planung adäquat. Es
        
        
          sind jedoch die zugrunde gelegten Wahrschein-
        
        
          lichkeiten zu hinterfragen.“
        
        
          2
        
        
          Doch wenn Controller das alles wissen, warum
        
        
          tun sie es dann nicht oder nur in viel zu gerin-
        
        
          gem Maße? Weil es immer noch Mut erfordert,
        
        
          wie Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender
        
        
          der Daimler AG, so treffend schreibt:
        
        
          „Im Kern geht es um eine Kompetenz, die wir
        
        
          weder durch Verhaltensrichtlinien verordnen
        
        
          noch in Workshops lehren können: Mut. Wer die
        
        
          Strukturen in Unternehmen kennt, der weiß: Ri-
        
        
          sikobereitschaft ist nicht unbedingt ein Kern-
        
        
          merkmal von Großkonzernen. Oft gibt es ganze
        
        
          Abteilungen, die sich ausschließlich mit der Mi-
        
        
          nimierung von Risiken beschäftigen. Das hat ja
        
        
          auch seine Berechtigung: Immerhin geht es um
        
        
          viele Arbeitsplätze – im Falle von Daimler um
        
        
          284.000. Die Frage ist nun: Wie kann man Mut
        
        
          auf Dauer in einem so großen Unternehmen
        
        
          verankern?“
        
        
          3
        
        
          Das gilt auch für kleinere Unternehmen. Mut
        
        
          sollte demnach zu den Charakter-Merkmalen
        
        
          eines Controllers zählen. Und dazu gehört vor
        
        
          allem, Geld und Preis endlich als das zu behan-
        
        
          deln, was sie sind: als Ansprüche, die sich in
        
        
          konkreten Geschäften gegen Risiken behaup-
        
        
          ten müssen.
        
        
          Es gehört der Mut dazu, nicht
        
        
          das Rechnen mit Geldeinheiten in den Vor-
        
        
          dergrund zu stellen, sondern das proaktive
        
        
          Begleiten unternehmerischer Geschäfte.
        
        
          Indem die Zukunft nicht als stabiles Planungs-
        
        
          Konstrukt erscheint, sondern als volatiles Gebil-
        
        
          de in Form von Bandbreiten und Korridoren.
        
        
          Und deren Risiken wir nicht dadurch begegnen,
        
        
          indem wir sie verschweigen oder bürokratisch
        
        
          verwalten, sondern indem wir die Flexibilität
        
        
          und Agilität der Menschen im Unternehmen vor-
        
        
          antreiben. Das ist mühselig und konfliktbeladen.
        
        
          Sollten wir es deshalb lassen?
        
        
          
            Exkurs
          
        
        
          Wir haben uns angewöhnt, das Geld von der
        
        
          Moral und das Faktische vom Politischen zu
        
        
          trennen. Ideengeschichtlich geht die eine
        
        
          Trennung auf John Locke zurück und die an-
        
        
          dere auf Descartes. Beides hat fatale Folgen.
        
        
          Das Geld konnte sich zum Selbstzweck ent-
        
        
          wickeln, hinter dem seine eigentliche Funk-
        
        
          tion zur Lösung der menschlichen Güterpro-
        
        
          bleme kaum mehr erkennbar wird. Und die
        
        
          Technik wie die sie tragenden Wissenschaf-
        
        
          ten schufen sich einen wert- und politikfreien
        
        
          Raum des Faktischen, in dem eine „organi-
        
        
          sierte Verantwortungslosigkeit“ den Blick auf
        
        
          die Folgen des Handelns vernebelt.
        
        
          Wohin schließlich die Kombination von un-
        
        
          moralischem Geld und verantwortungslosen
        
        
          Fakten führt, können wir derzeit weltweit
        
        
          beobachten.
        
        
          Auf der einen Seite sehen wir Ungleichge-
        
        
          wichte in der Einkommens- und Güterver-
        
        
          teilung, die allmählich die Dimensionen des
        
        
          „Ancien Régime“ (französisch für „frühere
        
        
          Regierungsform“, „alter Staat“) erreicht.
        
        
          Auch wenn die Zeiten nicht vergleichbar
        
        
          sind, darf man doch nicht vergessen, dass
        
        
          aus derart krassen Ungleichgewichten die
        
        
          Französische Revolution hervorgegangen ist.
        
        
          Und auf der anderen Seite erzeugen die
        
        
          wissenschaftlich-technischen Fortschritte
        
        
          soziale Spaltungen zwischen den „Nutznie-
        
        
          ßern“ und den „Abgehängten“ – allein die
        
        
          Bezeichnung wirkt spaltend und deklassie-
        
        
          rend – und zugleich die politischen Machtin-
        
        
          strumente, diese Spaltung zu zementieren.
        
        
          Da jeder wissenschaftlich-technische Fort-
        
        
          schritt finanziert werden muss, kann die
        
        
          Kombination beider Entwicklungen nicht
        
        
          vermieden werden. Das unmoralische Geld
        
        
          verzahnt sich mit dem verantwortungslosen
        
        
          Fortschritt.
        
        
          
            CM Mai / Juni 2017