personalmagazin 11/2017 - page 68

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RECHT
_WEGEUNFÄLLE
personalmagazin 11/17
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an
bereits auf dem Beifahrersitz verstaut.
Hierin könne jedoch nicht die das Ende
der Unterbrechung markierende Hand-
lung gesehen werden. Auch in diesem
Fall lassen die Bundesrichter unberück-
sichtigt, dass es sich in diesem Falle wohl
um einen Arbeitsunfall gehandelt hätte,
wenn die Arbeitnehmerin zu Fuß unter-
wegs gewesen wäre. Dann hätte die Un-
terbrechung des Wegs mit dem Betreten
der Metzgerei begonnen und der versi-
cherte Weg wäre mit dem Verlassen der
Metzgerei wieder aufgenommen worden.
BSG, Az. B 2 U 11/16; Vorinstanz:
Hessisches LSG, Az. L 3 U 95/14
Dachfensterfall: Sportlich zur Arbeit
Auch zu der Frage, wann der Weg zur
Arbeitsstelle beginnt, hat der zweite
Senat des BSG wieder einmal Stellung
genommen. Anders als im Semmel- und
Metzgereifall führte hier die „Dogma-
tik zum Wegeunfall“ des BSG jedoch
zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Was war geschehen? Ein Versicherter
verunglückte bei dem Versuch, seine
im Dachgeschoss (!) gelegene Wohnung
über das Fenster zu verlassen, um den
Weg zu seiner Arbeitsstelle anzutreten.
Hierzu wollte er über das Dach zunächst
per Sprung den Vordachbereich einer
tiefer liegenden Wohnung einer Miete-
rin erreichen. Er stürzte jedoch ab und
zog sich eine Verletzung zu.
Aus dem Fenster sei er gesprungen,
weil die Wohnungstür durch einen ab-
gebrochenen Schlüssel versperrt war.
Diese unwiderlegbare Feststellung
reichte den BSG-Richtern aus, nach der
Theorie von der objektiven Handlungs-
tendenz den Beginn eines Wegeunfalls
anzunehmen. Den ansonsten geltenden
Grundsatz, dass der versicherte Weg zur
Arbeitsstelle erst beginnen kann, wenn
die Außentür durchschritten und der
öffentliche Verkehrsraum erreicht wird,
setzten sie damit ausnahmsweise au-
ßer Kraft. So sei auch das Verlassen der
Wohnung durch ein Fenster mit einem
Durchschreiten der Außentür vergleich-
bar, sofern dieser Weg nicht „schlecht-
hin als ungeeignet“ angesehen werden
könne. Die Bundesrichter zeigten sich
hier erstaunlich großzügig – um nicht zu
sagen sportlich. Denn sie entschieden:
„Bei den gegebenen räumlichen Umstän-
den und einem Höhenunterschied von
zirka 2,60 Metern zwischen den Etagen
durfte ein objektiver Beobachter noch
annehmen, dem Kläger werde das He-
rabklettern aus dem Dachgeschossfens-
ter unfallfrei gelingen.“
Selbst die Feststellung, dass der
Sprung unter Kokaineinfluss gewagt
wurde, hielt sie nicht von der Wertung
ab, den Dachfensterausstieg einem
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt
mit Schwerpunkt
Arbeits- und Sozial-
versicherungsrecht in
Freiburg.
Wenn einerseits beim „Normalfall“ eines
Semmeleinkaufs ein höchst strenger
Maßstab an die Voraussetzungen eines
Wegeunfalls angelegt wird und nach objek-
tiven Anhaltspunkten zur Festlegung einer
betrieblichen Handlung gefahndet wird,
wenn andererseits bei abstrusen Fällen wie
dem Dachfensterausstieg die Absichtser-
klärung, man habe sich auf dem Weg zu
einer betrieblichen Tätigkeit aufgemacht,
ausreichen soll, so löst dies nachvollzieh-
bare „Gerechtigkeitsreflexe“ aus. Zumal die
Entscheidungen mangels gesetzlicher Defi-
nitionen allein mit einer für den Laien kaum
nachvollziehbaren Theorie begründet wer-
den. Die Richter des BSG hätten sich keinen
Zacken aus der Krone gebrochen, wenn sie
den Gleichbehandlungsgrundsatz über die
fragwürdige Konstruktion einer „objek-
tivierbaren Handlungstendenz“ gestellt
hätten. Nun führen die Entscheidungen
schließlich dazu, dass gleiche Sachverhalte
unterschiedliche Ergebnisse hevorbringen
– je nachdem, ob ein Mitarbeiter seine
Semmeln mit dem Auto holt oder zu Fuß
an der Bäckerei vorbeikommt. Soweit die
Bundesrichter dies im Hinblick auf eine Ver-
meidung von „Nachfolgefällen“ getan ha-
ben, dürfte diese Sorge unberechtigt sein.
Das Unfallversicherungsrecht ist bekanntlich
stets einzelfallbezogen zu betrachten, was
das BSG selbst immer wieder betont. Dies
zeigt auch der Waschmaschinenfall, bei
dem das BSG sich sehr großzügig gezeigt
„Kaum nachvollziehbare Theorien“
Normal, abstrus, großzügig: Am „Tag der Wegeunfälle“ war es unnötig, dass das Bundes-
sozialgericht zu gleichen Sachverhalten unterschiedlich urteilte, meint Thomas Muschiol.
hat. Auch wenn jetzt manche befürchten,
dass damit Tür und Tor für einen Versiche-
rungsschutz im Homeoffice „rund um die
Uhr“ aufgestoßen wurde: Das BSG hat schon
eine Fluchtklausel vorgesehen und im
Urteil einen Hinweis für ein Ausufern des
Arguments „ich war betrieblich unterwegs“
eingebaut. Im Einzelfall, urteilt das BSG,
könne auch der konkrete Ort und der Zeit-
punkt des Unfallgeschehens als Indiz für die
Ablehnung eines Wegeunfalls berücksichtigt
werden. Wenn die Bundesrichter insoweit
schon einmal den unversicherten „Sturz im
privaten Weinkeller weit nach Mitternacht“
anführen, bleibt mir nur die (juristische)
Frage, wie man ausgerechnet auf dieses
Beispiel kommt.
KOMMENTAR
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