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            RECHT
          
        
        
          _RECHTSPRECHUNG
        
        
          personalmagazin  02/17
        
        
          EuGH selbst gewesen, der anerkannt ha-
        
        
          be, dass der Anspruch auf Urlaub unter-
        
        
          gehen könne, wenn „der Urlaub für den
        
        
          Arbeitnehmer keine positive Wirkung
        
        
          als Erholungszeit mehr habe“. Dies sei,
        
        
          folgern die Bundesrichter messerscharf,
        
        
          nach dem Tod des Arbeitnehmers „erst
        
        
          recht der Fall“. Schließlich könne in der
        
        
          Person des verstorbenen Arbeitnehmers
        
        
          der Erholungszweck nicht mehr verwirk-
        
        
          licht werden.
        
        
          
            Vorlagebeschlüsse vom 18.10.2016,
          
        
        
          
            Az. 9 AZR 196/16 (A) und 9 AZR 45/16 (A)
          
        
        
          Urlaub, Teil II: Urlaubserteilungspflicht
        
        
          Die besondere Hartnäckigkeit des BAG,
        
        
          dem EuGH die Grenzen in Sachen Ur-
        
        
          laubsrecht aufzuzeigen, wird noch
        
        
          einmal im letzten Monat des Recht-
        
        
          sprechungsjahrs 2016 deutlich. Nicht
        
        
          kampflos akzeptieren wollen die Erfur-
        
        
          ter Richter insoweit Entscheidungen von
        
        
          Instanzgerichten, die – ohne dass sich
        
        
          der EuGH selbst schon einmal dezidiert
        
        
          dazu geäußert  hat – eine grundlegen-
        
        
          de Neubetrachtung des Urlaubsrechts
        
        
          unter dem Aspekt europarechtlicher
        
        
          Auslegung anstellen. So hatten gleich
        
        
          zwei Landesarbeitsgerichte die Ansicht
        
        
          vertreten, dass der im Bundesurlaubs-
        
        
          gesetz geregelte Verfall des Urlaubs
        
        
          zumindest bezüglich des gesetzlichen
        
        
          Mindesturlaubs nicht eintritt, wenn
        
        
          der Arbeitnehmer diesen hätte nehmen
        
        
          können und der Arbeitgeber ihn darauf
        
        
          nicht aufmerksam gemacht hat. Im Kern
        
        
          geht es also darum, ob Arbeitnehmer
        
        
          Urlaub beantragen müssen, weil an-
        
        
          dernfalls der im Kalenderjahr nicht be-
        
        
          antragte Urlaub verfällt. Alternativ wäre
        
        
          der Arbeitgeber im Zweifel innerhalb
        
        
          des Kalenderjahrs dazu verpflichtet, die
        
        
          zeitliche Lage des Urlaubs einseitig fest-
        
        
          zulegen.
        
        
          Doch damit nicht genug: Auch in
        
        
          diesem Fall hat das BAG seinen Vor-
        
        
          lagebeschluss mit einer kniffligen
        
        
          Zusatzfrage ausgestattet. Wie in den
        
        
          Vorlagebeschlüssen zur Vererblichkeit
        
        
          von Urlaubsabgeltungsansprüchen ge-
        
        
          hen auch hier die Bundesrichter „ans
        
        
          Eingemachte“ und zwingen den EuGH
        
        
          zu grundsätzlichen Erläuterungen der
        
        
          Rechtsnatur europäischer Richtlinien.
        
        
          
            Vorlagebeschluss vom 13.12.2016,
          
        
        
          
            Az. 9 AZR 541/15 (A)
          
        
        
          
            THOMAS MUSCHIOL
          
        
        
          ist Rechtsanwalt und
        
        
          Fachautor in Freiburg.
        
        
          Entscheidungen über die Europarechtswid-
        
        
          rigkeit nationaler Gesetze sind keineswegs
        
        
          immer das Ergebnis heftiger juristischer
        
        
          Meinungsstreitigkeiten. Im Gegenteil: Es
        
        
          gibt durchaus Vorlageverfahren, die nur
        
        
          bestätigen, was die Fachwelt ohnedies als
        
        
          „unstreitig“ ansieht und es dann nur eine
        
        
          Frage der Gelegenheit ist, wann die Unwirk-
        
        
          samkeit oder Einschränkung eines Gesetzes
        
        
          festgestellt wird. Ein Beispiel dafür ist die
        
        
          Teilunwirksamkeit der deutschen Bestim-
        
        
          mungen zur Berechnung der Kündigungsfris-
        
        
          ten. Allerspätestens nach dem Inkrafttreten
        
        
          des allgemeinen Gleichbehandlungsgeset-
        
        
          zes (AGG) war sich die Fachwelt einig: Die
        
        
          Formulierung, dass Zeiten der Betriebszuge-
        
        
          hörigkeit für die Berechnung der Kündi-
        
        
          gungsfristen erst nach der Vollendung des
        
        
          25. Lebensjahrs zählen, ist unwirksam.
        
        
          Die Gelegenheit, dies feststellen zu lassen,
        
        
          hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) Düs-
        
        
          seldorf, was am 13. Dezember 2007 unter
        
        
          wohlwollendem Applaus einen entspre-
        
        
          chenden Vorlagebeschluss an den EuGH
        
        
          einreichte. Dass der EuGH zur Entscheidung
        
        
          darüber mehr als zwei Jahre benötigte, mag
        
        
          man noch mit der hohen Belastung der
        
        
          Luxemburger Richter erklären. Warum aber
        
        
          der Gesetzgeber bis heute nicht reagiert
        
        
          und den § 622 BGB geändert hat, lässt sich
        
        
          auch mit viel Phantasie nicht begründen.
        
        
          Reagiert haben allenfalls die Verlage und so
        
        
          wird dem teilunwirksamen Paragraphen die
        
        
          seltene Ehre zuteil, auch in unkommentier-
        
        
          ten Gesetzessammlungen mit einer Fußnote
        
        
          ausgestattet zu sein, die auf seine Europa-
        
        
          rechtswidrigkeit aufmerksam macht.
        
        
          Ohne diesen Hinweis würde man sich
        
        
          Vorlage-Jubiläum für LAG
        
        
          Bereits vor zehn Jahren hat ein Landesarbeitsgericht den EuGH angerufen, um eine Vor-
        
        
          schrift zur Berechnung der Kündigungsfristen zu prüfen. Zwar kassierte der EuGH die Rege-
        
        
          lung, der Gesetzgeber hat jedoch bis heute nicht reagiert, was Thomas Muschiol kritisiert.
        
        
          ernsthaft darüber Gedanken machen, ob
        
        
          sich der unbefangene Bürger nicht gelinde
        
        
          gesagt veräppelt fühlen muss, wenn er sich
        
        
          schlicht an das geschriebene Gesetz halten
        
        
          würde. Apropos Veräppeln: Klickt man die
        
        
          offiziellen Gesetzessammlungen des Justiz-
        
        
          ministeriums im Internet an, so sucht man
        
        
          nach einer klarstellenden Fußnote leider
        
        
          vergeblich.
        
        
          Bleibt nur noch die Frage, ob die Richter des
        
        
          LAG Düsseldorf das erst im Dezember 2017
        
        
          vollendete zehnjährige Vorlage-Jubiläum
        
        
          schon „vorfeiern“ dürfen? Ich meine ja, denn
        
        
          dass der Gesetzgeber sein Versäumnis noch
        
        
          bis dahin bemerken und vor allem zugeben
        
        
          wird, damit ist – um in der Sprache der
        
        
          Juristen zu bleiben – „nicht mit hinreichender
        
        
          Wahrscheinlichkeit“ zu rechnen, erst recht
        
        
          nicht, wenn Wahlen vor der Tür stehen.
        
        
          
            THOMAS MUSCHIOL
          
        
        
          ist Fachautor mit
        
        
          Schwerpunkt im
        
        
          Arbeits- und betrieb-
        
        
          lichen Sozialversiche-
        
        
          rungsrecht in Freiburg.
        
        
          
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