personalmagazin 10/15
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SPEZIAL
_RECRUITING
fest, dass es oft mitten im Rekrutie-
rungsprozess zum unvorhergesehenen
Abbruch kommt, zum Beispiel wenn
ein Bewerber für die Stelle perfekt er-
scheint, er den Arbeitsvertrag aber
nicht unterschreibt und zurückschickt.
In beiden Fällen ist es wichtig, den Ur-
sachen auf den Grund zu gehen und Ab-
hilfe zu schaffen.
Hierfür ist es hilfreich die „Candidate
Journey“, also die Reise des Bewerbers
durch den Bewerbungsprozess, nachzu-
vollziehen, zu dokumentieren und dann
zu analysieren. Die „Candidate Journey“
beschreibt alle rationalen und vor allem
emotionalen Erlebnisse im Bewerbungs-
prozess aus Sicht des Bewerbers. Wäh-
rend des Recruitingprozesses können
bereits kleine Hürden zum Abbruch der
Bewerbung führen, etwa eine unfreund-
liche Begrüßung auf der Recruitingmes-
se oder mangelnde Pünktlichkeit der
Führungskraft im Bewerbungsgespräch.
Es gibt sogar noch banalere Gründe: Las-
sen sich im Bewerbungsformular An-
hänge nicht hochladen oder Felder nicht
intuitiv ausfüllen, führt dies schnell zu
Frustration beim Bewerber und häufig
auch zum Abbruch der Bewerbung.
Bei der „Candidate Journey“ verset-
zen sich die Recruiter in die Lage eines
Bewerbers und durchlaufen alle Begeg-
nungen mit dem eigenen Unternehmen,
beginnend beim Interesse an einer frei-
en Stelle bis zum ersten Arbeitstag. Die
Erkenntnisse, die sie hierbei gewinnen,
können sie nutzen, um positive Aspekte
zu betonen und negative Erlebnisse zu
vermeiden. Hierbei gilt: Je qualitativ
hochwertiger die Begegnungen erlebt
werden, desto attraktiver erscheint der
Arbeitgeber demBewerber – unabhängig
von der infrage kommenden Stelle. Einen
enormen Mehrwert liefern auch ehrliche
Rückmeldungen von Bewerbern, die dem
Unternehmen abgesagt haben.
Ziel der „Candidate Journey“ ist es,
für den Bewerber, aber auch für das Un-
ternehmen, einen leichtgängigen und
konsistenten Recruitingprozess zu ge-
stalten. Die Chance, mit dieser Metho-
de Verbesserungen zu erzielen, ist sehr
hoch, denn 90 Prozent der Bewerber ma-
chen ihre finale Entscheidung von den
Erfahrungen im Bewerbungsprozess ab-
hängig. Das macht die Candidate Jorney
zu einem mächtigen Werkzeug.
Prototyping: schnelle Veränderungen
Eine weitere Möglichkeit, die „Candi-
date Experience“ zu verbessern, ist das
so genannte Prototyping. Prototyping
stammt ursprünglich aus der Automo-
bilindustrie und ist heute weit verbreitet
in der Welt der Start-ups. Es geht dar-
um, schnell ein marktfähiges Produkt,
einen Prototypen, zu entwickeln. Der
Prototyp wird dann weiterentwickelt
und kontinuierlich an die Kundenwün-
sche angepasst.
Diese Methode kann auch die Per-
sonalabteilung nutzen. Dazu die „HR-
Produkte“ identifiziert, die für die
„Candidate Experience“ relevant sind.
Zu diesen können beispielsweise die
Stellenanzeige, das Bewerbergespräch,
die Karrierewebsite und das Onboarding
zählen. Ziel des Prototypings ist es, die
HR-Produkte auf das nächste Level zu he-
ben und dabei die Bewerberbedürfnisse
besser zu berücksichtigen als bisher. Im
Gegensatz zum Best-Practice-Ansatz gilt
es hierbei, Ideen in schnell spürbare und
pragmatische Verbesserungen zu ver-
wandeln. Nicht der bestmögliche Prozess
steht im Fokus, sondern Wirksamkeit.
Bei jeder Verbesserung im Prototyping
CHRISTIAN UHLIG
ist einer
der Gründer der HR-Strate-
gieberatung Der schwarze
Schwan.
JAN WILLAND
ist einer der
Gründer der HR-Beratung
Menschmark.
wird die Schleife „Entwerfen, Testen,
Lernen“ durchlaufen. Das Feedback der
internen Kunden beim Testen der HR-
Produkte wird in der nächsten Schleife
aufgegriffen und verarbeitet. Diese Feed-
backschleife ermöglicht es der Personal-
abteilung, sich auf die Verbesserungen
zu konzentrieren, die für die internen
Kunden wirklich wichtig sind, anstatt
Dinge maximal effizient zu tun, die im
Zweifelsfall niemand benötigt.
Das Tun ist entscheidend
Die Welt ist zu schnell geworden für
starre Strukturen und langwierige Pro-
zesse. Heute sind Kundenzentrierung,
Beweglichkeit und Mut gefragt. Die be-
schriebenen Methoden zeigen: Häufig
sind es schon kleine Maßnahmen, die
große positive Veränderungen bewir-
ken. Es ist also unerheblich, an welchen
Punkten Unternehmen ansetzen oder
welche Methode sie wählen. Viel ent-
scheidender ist, dass sie es überhaupt
tun.
Die Candidate Journey beschreibt alle rationalen und emotionalen Erlebnisse.
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